Mitten in Europa tobt ein russischer Angriffskrieg; in der Ukraine wird die Lage immer schlimmer. Haben Sie erwartet, dass wir im Jahr 2022 so etwas erleben würden?

PAUL LENDVAI: Nein. Und ich glaube auch, dass Putins Angriff jeder Logik widerspricht. Er hat sich in der Ukraine total verkalkuliert. Und er ist die lebende Bestätigung für Elias Canettis These über die auf eine Einzelperson zugeschnittene Diktatur: "Er will der einzige sein, er will alle überleben, damit keiner ihn überlebt", schrieb der große Schriftsteller. Dieses Motiv dürfte auch eine Rolle spielen, wenn sich Putin an seinem langen Tisch nicht nur Macron oder Scholz vom Leibe hält, sondern sogar seine engsten Mitarbeiter.



Sehen sich noch einen Ausweg, um diesen Krieg zu beenden?

Die größte Gefahr sehe ich darin, dass sich Putin in eine Lage gebracht hat, wo er in seiner eigenen Falle gefangen ist. Angesichts seiner hohen Forderungen an die Ukraine könnte er sich nur unter enormem Gesichtsverlust befreien. Dazu scheint er derzeit nicht bereit. Deshalb sehe ich keine schnelle Lösung. Ich fürchte auch, dass momentan die Diktatur in Russland noch stark genug ist, um Proteste niederzuschlagen. Die Lage in Moskau ist in mancher Hinsicht gefährlicher als zu Stalins oder Chruschtschows Zeiten. Nicht einmal während des Stalinismus wurden westliche Journalisten mit Haftstrafen – bis zu 15 Jahre! – bedroht. In der Sowjetunion gab es eine Struktur, in der es hinter dem Mann an der Spitze auch eine Partei mit einem Zentralkomitee, Politbüro und Sekretariat gab. Bei Putin weiß niemand, wer die eigentlichen entscheidenden Berater sind. Wir haben gesehen, dass Chruschtschow entmachtet werden konnte. Und zu all dem kommt als gefährliches Element die "Zweckehe" hinzu, die Putin und Chinas Xi Jinping geschlossen haben.

Was will Putin erreichen?

Er will eine Art "Alt-Russland" mit der Ukraine, mit Weißrussland und sogar mit den Russen in Teilen Kasachstans errichten – aber er hat die gesellschaftliche Realität in der Ukraine dabei völlig ausgeblendet. Die Ukraine ist in den letzten 20 Jahren ein anderes Land geworden. Heute gehen nur noch sieben Prozent der ukrainischen Exporte nach Russland, und mehr als 40 Prozent in die EU. 2012 war das noch anders. Es wird sehr schwierig werden, hier einen Kompromiss zu finden.



Europa hat scharf reagiert; Deutschland seinen Kurs um 180 Grad verändert. Welche Auswirkungen des Krieges erwarten Sie?

Der große, kontroversielle, deutsche Dichter Ernst Jünger sagte einmal: Wenn man lange lebt, erlebt man alles – und auch das Gegenteil davon; auch Dinge, die man sich nicht vorstellen konnte. Das geht mir jetzt auch so. Selbst Emmanuel Macron hat vor zwei Jahren in einem Interview noch behauptet, die Nato sei "hirntot" – jetzt sehen wir das Gegenteil. Wir erleben eine Zeitenwende – dass das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas, im Herzen des Kontinents, ohne Grund einfach überfallen wird. Es kommt eine frostige Zeit mit starker Konfrontation auf uns zu, deren Ende ich heute noch nicht sehen kann. Der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt gab einst die Devise aus: "Speak softly and carry a big stick" – sinngemäß: "Sprich sanft und trage einen großen Knüppel". Gemeint war damit die Führung von Verhandlungen, aber begleitet von einem schlagkräftigen Militärapparat und einer starken Wirtschaftsmacht. Das ist etwas, was jetzt offenbar in Deutschland verstanden wird.

Ungarns Premier Viktor Orbán, der Anfang April um seine Wiederwahl kämpft, pflegte bisher eine Sonderbeziehung zu Putin.

Orbán ist der fähigste, gerissenste und der gefährlichste Politiker in der modernen ungarischen Geschichte, dessen Lebensauffassung und Philosophie im Zynismus besteht. Ich glaube, Orbán wird ganz genau beobachten, wie sich die Einstellung der Bevölkerung zu den ukrainischen Flüchtlingen entwickelt und dann entscheiden, wie er seinen Wahlkampf weiter anlegt. Ich rechne nicht damit, dass er sich eindeutig von Russland abwendet.

Müssen wir uns Sorgen machen, dass im Zuge der Ost-West-Zuspitzung durch die Ukraine-Krise auch in Bosnien ein neuer Krieg ausbrechen könnte?

Die jetzige Situation ist für Bosnien brandgefährlich. Serben-Führer Milorad Dodik kann man zu einer eigenen Klasse von Putin-Dienern zählen. Und es ist durchaus möglich, dass die Russen am Balkan eine neue Front eröffnen wollen. Auch Serbiens Präsident Aleksandar Vucic, der ja der Propaganda-Minister von Milosevic war, ist zu allem bereit.

Und was, wenn Donald Trump wieder an die Macht kommt?

Das wäre für uns die größte Gefahr. Die Rolle der USA ist in dieser angespannten Lage sehr, sehr wichtig. Ich hoffe, dass die Republikaner verstehen, dass es hier um weltpolitische Gefahren geht, die auch die Vereinigten Staaten bedrohen könnten. Es ist ein unglaubliches Glück, dass gerade jetzt Joe Biden im Weißen Haus sitzt. Trump noch einmal – das wäre eine Katastrophe. Aber vielleicht passiert etwas Besseres. So etwas wie ein "Ibiza Video Made in USA" wäre auch möglich.