Ungarns Justizministerin Judit Varga verlässt mit dem heutigen Montag die Regierung und wechselt in die Europapolitik. Die Ministerin hatte angekündigt, sie wolle für die Regierungspartei Fidesz bei den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2024 als Spitzenkandidatin antreten. Diese Aufgabe fordere ihre gesamte Kraft, begründete die 42-Jährige ihren Rücktritt. Ihr Nachfolger als Minister wird ab 1. August Bence Tuzson.

Aktive Rolle für "konservative Wende"

Der Online-Ausgabe der regierungsnahen Zeitung "Magyar Nemzet" gegenüber hatte Varga betont: Es müsse die überproportionale linksliberale Vorherrschaft in der EU gestürzt und eine konservative Wende in den europäischen Institutionen herbeigeführt werden. Dabei wolle sie eine aktive Rolle spielen.

Das Ziel von Ungarns Regierungschef Viktor Orbán könnte ein Posten für Varga in der Europäischen Kommission sein, berichtete das Brüsseler Portal "Politico.eu". Das sei ein "reales Drehbuch". Die mehrere Sprachen sprechende Politikerin, zu deren Ministerium auch EU-Angelegenheiten gehörten, sei in Brüssel für ihre konfrontative Rhetorik, ihre Kritik an EU-Institutionen in den sozialen Medien und ihre tiefe Loyalität Orbán gegenüber bekannt. Varga sei in den letzten Jahren an vorderster Front im Kampf Ungarns mit der EU gestanden und verteidigte lautstark eine Politik, die nach Ansicht der meisten EU-Regierungen grundlegende demokratische Normen untergräbt, schrieb "Politico".

Opposition spricht von Flucht

Die ungarische Opposition kommentierte den Rücktritt mit den Worten, die Juristin fliehe als EU-Spitzenkandidatin vor der Verantwortung nach Brüssel. Varga trage Verantwortung für Korruptionsfälle in ihrem Ministerium, kritisierte die Opposition. Ihr im Dezember 2021 zurückgetretener Stellvertreter, Ex-Staatssekretär Pál Völner, steht wegen Korruption vor Gericht. Er soll Schmiergelder vom Präsidenten der ungarischen Kammer der Gerichtsvollzieher, György Schadl, angenommen haben. Als Gegenleistung habe Völner verschiedene Angelegenheiten erledigt und dabei sein Amt zum eigenen Vorteil missbraucht.

Völners Name war im Zusammenhang mit dem Einsatz der israelischen Spionage-Software Pegasus in Ungarn und den damit verbundenen Abhöraktionen immer wieder aufgetaucht. Mit Pegasus waren unter anderem mehrere Investigativjournalisten ausspioniert worden. Die Regierungspartei Fidesz verhinderte mit seiner Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament die Aufstellung eines Untersuchungsausschusses, der die Rolle von Varga in der Angelegenheit Völner-Schadl untersuchen sollte. Die Oppositionsparteien hatten das Justizministerium zum "kriminellen Tatort" erklärt.

Keine Frauen mehr in Orbáns Regierung

Die Oppositionspartei Demokratische Koalition (DK) warf Varga vor, sie sei selbst Teil der Korruptions- und Abhörskandale der Regierung von Premier Orbán. Selbst wenn Varga sich mithilfe von Fidesz nach Brüssel rette, würde sie nicht verhindern können, zur Verantwortung gezogen zu werden, warnte die DK.

Der Wechsel an der Spitze des Justizministeriums bedeutet zugleich, dass der neue Minister keine Zuständigkeit mehr für EU-Angelegenheiten besitzt. Diese sollen für Orbán eine besondere Bedeutung haben. Im Hintergrund stehen Verhandlungen mit Brüssel hinsichtlich der wegen Rechtsstaatlichkeitsmängel eingefrorenen EU-Ressourcen für Ungarn sowie wegen der 2024 anstehenden ungarischen EU-Ratspräsidentschaft. Minister für EU-Angelegenheiten wird János Bóka, bisher Staatssekretär im Justizministerium.

Der neue Justizminister Tuzson ist verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er war als Staatssekretär in verschiedenen Positionen im Amt des Ministerpräsidenten tätig und ist seit 2014 Parlamentsabgeordneter. Der ungarischen Nachrichtenagentur MTI gegenüber betonte der Jurist: Das Ministerium werde sich unter seiner Führung auf den Schutz der ungarischen Rechtssouveränität konzentrieren, die in letzter Zeit angegriffen wurde. Die Opposition bezeichnet den auch auf Social Media sehr aktiven neuen Minister als einen "wichtigen Mann der Propaganda-Maschinerie" der Orbán-Regierung.

Ungarns Staatspräsidentin Katalin Novák, früher Familienministerin unter Orbán, bedauerte am Montag auf Facebook, dass es in der Orbán-Regierung ab 1. August keine Frau mehr gebe. Novák betonte zugleich die Notwendigkeit der Frauen im ungarischen öffentlichen Leben, dankte Varga für ihren Dienst und wünschte ihr Kraft und Ausdauer für die neue Aufgabe.