Bis gestern Nachmittag stand noch nicht endgültig fest, ob es zu einer Stichwahl kommt oder Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Absolute noch schafft. Leichtes Spiel hätte er hingegen in Österreich und Deutschland gehabt. Hier wäre der Amtsinhaber auf knapp 72 bzw. 65 Prozent gekommen.

Interessantes Detail: Graz war die einzige österreichische Stadt, in der der Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu die Nase vorne hatte (53,4 Prozent). In den restlichen Wahllokalen (Bregenz, Innsbruck, Linz, Salzburg, Wien) gewann Erdoğan mit komfortablem Vorsprung. Für Bilgin Ayata, Politikwissenschaftlerin an der Uni Graz, eine der größten Überraschungen in der Nachbetrachtung. Noch spannender sei aber der Ausgang der Parlamentswahl, die gleichzeitig stattgefunden hat: In Graz kam das prokurdische linke "Bündnis für Arbeit und Freiheit" auf den drittgrößten Stimmenanteil – weltweit.

"Hat mit der Form der Migration zu tun"

International ist das Wahlverhalten der Türkinnen und Türken sehr heterogen. So kam Kılıçdaroğlu in Kanada und den USA jeweils auf etwa 80 Prozent, ähnlichen Zuspruch erfuhr er in Großbritannien (79 Prozent). Auch klar vorne lag der Oppositionskandidat in der Schweiz oder Ungarn.
"Das hat klar mit der Form der Migration in diesen Ländern zu tun", sagt Ayata zu diesen Zahlen und spricht das Beispiel der Schweiz an. Hier kam es in den 60er- und 70er-Jahren nicht zur klassischen Arbeitsmigration. Das Bild der Diaspora sei eher geprägt von einer progressiven Community aus Minderheiten, da die Schweiz diesen während der Militärdiktatur einen hohen Grad an Schutz geboten habe. Ähnlich in England, wo es mehr Intellektuelle und geflüchtete politische Aktivisten gebe.

Ganz klar gewann Erdoğan auch in Frankreich, Belgien und den Niederlanden. Der große Zuspruch lässt sich durch zwei Umstände erklären, sagt Ahmet Toprak, Professor für Erziehungswissenschaften an der Fachhochschule Dortmund. "Einerseits stammen viele Ausgewanderte aus derselben islamisch-konservativen Region wie Erdoğan und sie fühlen sich ihm loyal verpflichtet." Ein großer Grund liege andererseits in der Wahlberechtigung. "Die Auswanderer aus dem säkularen Bereich mit hohem Bildungsniveau sind schlicht nicht mehr wahlberechtigt, weil sie sich in ihren Ländern wie Österreich oder Deutschland haben einbürgern lassen. Also jene, die jemanden anderen als Erdoğan wählen würden, können gar nicht mehr wählen."

Autobahnen, Brücken und die Rolle der EU

Zudem komme laut Toprak für die weiterhin Wahlberechtigten ein verklärtes Bild der alten Heimat dazu. "Sie erinnern sich daran, dass ihnen Erdoğan greifbare Dinge wie Autobahnen und Brücken gebracht hat. Verschlechterungen bei Menschenrechten und Co. sind ihnen zu abstrakt und betreffen sie im Ausland ohnehin nicht." Zudem werden vorrangig staatlich kontrollierte TV-Sender konsumiert, "in denen die Opposition nicht vorkommt und immer betont wird, wie toll die Dinge im Land funktionieren".

Bilgin Ayata sieht hier aber auch eine Verantwortung der Europäischen Union und spart diesbezüglich nicht mit Kritik: "Wenn jemand die demokratische Opposition in der Türkei im Stich gelassen hat, dann ist das ganz klar die EU." Zwar wäre die EU einmal eine wichtige Instanz für den Aufbau demokratischer Normen gewesen. Doch dieser wichtige politische Einfluss sei nicht mehr zu erkennen – insbesondere seit 2015: "Immer wenn Erdoğan die Flüchtlinge im Lande als Faustpfand einsetzt, hört die Kritik in der EU auf." Die Union sehe dann dabei zu, wie die türkische Opposition unterdrückt wird.