Wieder werde ein echter Krieg gegen das Vaterland geführt, Wladimir Putin klang gewohnt zornig. Aber man verteidige die Menschen im Donbass und die eigene Sicherheit mit Erfolg, man sei stolz auf die Teilnehmer der "Kriegsspezialoperation". "Ihr erfüllt eure Pflicht mit Ehre, ihr kämpft für Russland. Eure Familien, Kinder und Freunde stehen hinter euch", der russische Staatschef beschwor Weltkriegsharmonie. "Das ganze Land hält zusammen, um unsere Helden zu unterstützen, alle sind bereit zu helfen, alle beten für euch!"

Putin predigte auf dem Roten Platz zehn Minuten, die Parade zum 78. Jahrestag des Sieges über Hitlerdeutschland dauerte insgesamt eine Stunde, nur wenige Minuten weniger als im Vorjahr. Aber dieses Jahr wirkte die rituelle Machtdemonstration, mit der Moskau traditionell den 9. Mai feiert, eher eilig als wuchtig.

Der Krieg, von dem Putin redete, zeigt Wirkung. Auch dieses Jahr demonstrierten 8000 glänzend uniformierte und durchtrainierte Elitesoldaten, dass Marschieren simultaner Leistungssport sein kann. Aber im Vorjahr waren es 11.000. Und diesmal nahm kein einziges Flugzeug teil. Außerdem kaum eines der modernisierten, in der Ukraine erprobten Waffensysteme, die die Staatsmedien angekündigt hatten. Dafür rollten ein T-34-Museumspanzer und zu Truppentransportern umgebaute Kamaz-Lastwagen über die Pflastersteine vor dem Kreml. Es fehlte der als Wunderwaffe gefeierte, aber für den Fronteinsatz offenbar zu kostspielige Armata-Kampfpanzer. Man sah auch keine T-90 oder T-72, die als das Rückgrat der russischen Panzerkräfte in der Ukraine gelten. "Die Parade hat die Auszehrung der russischen Armee im zweiten Kriegsjahr gezeigt", schreibt das Portal "agents.media". So sei auch die 4. Gardepanzerdivision Kantemirowskaja nicht aufmarschiert, die bei der ukrainischen Offensive im Raum Charkiw vergangenen Herbst schwere Verluste erlitten haben soll.

Truppen hätten Flucht ergriffen

"Ein trauriges Schauspiel", höhnte der Exilpolitologe Dmitri Oreschkin. Und nicht nur oppositionelle Kommentatoren spekulieren, ob die Kürze der Paradekolonne der kritischen Lage an der Front geschuldet ist. Jewgeni Prigoschin, der lautstarke Chef der Wagner-Söldnerruppe, verkündete zum Tag des Sieges, gerade habe eine reguläre Armeebrigade südlich von Bachmut die Flucht ergriffen und sechs Quadratkilometer Schlachtfeld preisgegeben. Dabei hat die Großoffensive, die russische Experten mit gemischten Gefühlen erwarten, noch gar nicht begonnen.

In Moskau gibt es wohl noch andere Befürchtungen. Vor Kurzem hatte Kremlsprecher Dmitri Peskow noch erklärt, man plane mangels einer runden Jahreszahl nicht, ausländische Staatsführer einzuladen. Aber dann saßen mit dem Kasachen Kassym-Schomart Tokajew, dem Usbeken Schawkat Mirsijojew, dem Kirgisen Sadyr Dschaparow, dem Tadschiken Emomali Rachmon und dem Turkmenen Serdar Berdimuhamedow sämtliche Präsidenten Zentralasiens auf der Tribüne, außerdem der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko und der armenische Premier Nikol Paschinjan. Einige Experten vermuten, Putin habe die Sieben eilig zusammengetrommelt, um zu demonstrieren, dass doch ein Großteil der GUS hinter seinem Ukraine-Abenteuer steht. Aber der kremlnahe Politologe Sergei Markow gab auf Telegram eine andere Erklärung: "Das senkt enorm die Wahrscheinlichkeit einer terroristischen Attacke gegen die Parade seitens der Ukraine." Nachdem in der Nacht auf vergangenen Mittwoch zwei leichte Kampfdrohnen auf einer Kremlkuppel eingeschlagen waren, befürchtete man in Moskau, Putins Feinde könnten die Heerschau unter freiem Himmel nutzen, um ihn direkt mit Sprengstoff-Koptern zu attackieren. 

Tatsächlich hätten Attentäter bis zu acht tote Staatschefs und einen blutigen internationalen Skandal riskiert. Eine Moderatorin des regimekritischen Senders TV Doschd aber merkte gestern an, Putin halte seinen Rücken sehr steif, er trage vermutlich eine Panzerweste unter seiner Kleidung. Jedenfalls wurde er von Dutzenden Athleten mit dunklen Anzügen und Sonnenbrillen umschwärmt. Auch der Rote Platz ist für Wladimir Putin keine Wohlfühlzone mehr.