Sie zeichnen ein sehr düsteres Bild über die CDU und den konservativen Teil der Regierung. Zerbröselt der CDU gerade ein bisschen der Laden?
ROBIN ALEXANDER: Auf jeden Fall besteht die Gefahr und das ist für Deutschland keine kleine Sache, weil die CDU ja das Selbstverständnis hat, die eigentliche Staatspartei zu sein und sich darauf auch lange ausruhte. Noch in der Corona-Krise war die Stimmung lange Zeit „wir haben das am besten im Griff auf der ganzen Welt“. Da hat man sich oft über Donald Trump oder Sebastian kurz erhoben. Man dachte, man hätte die beste Kanzlerin der Welt, die beste Regierung, die beste Verwaltung und alles liefe super. Das ist in wenigen Wochen komplett zerbröselt und jetzt lichtet sich der Corona-Nebel und wir stehen vor einem Wahljahr. Erstaunlicher Weise treten immer mehr Leute der Vorstellung näher, dass die CDU nicht mir die zentrale Partei in der nächsten Regierung ist. Das ist schon etwas Bemerkenswertes, aber das hat mit der CDU selber zu tun.

Aber wenn man sich das im Europäischen Vergleich anschaut, dann ist Deutschland gar nicht so schlecht durch die Krise gekommen.
Schlimmer geht natürlich immer, aber in unserem Land ist der Impfstoff erfunden worden, der die Impf-Kampagnen in den Industrie-Ländern trägt. Dass der bei uns eine ganze Ecke später angewendet wird, Monate später als überall sonst in der westlichen Welt, das ist sicher nicht gut gelaufen. Die Pandemie hat ein Schlaglicht auf Dinge geworfen, die schon vorher im Argen waren. Unser Schulsystem ist nicht so gut wie es sein sollte und wir sind auch in der Digitalisierung nicht so weit wie wir sein sollten. Das ist Leuten jetzt noch einmal sehr klar geworden.

Sie beschreiben das in dem Buch als eine Aneinanderreihung von egozentrischen Politikern. Scheitert die Politik in so großen Krisen an Politikern, die zu sehr auf sich gerichtet sind?
Es geht ja eigentlich darum, wie das scheitert, wie Angela Merkel ihre Nachfolger regelt. Es beginnt mit dem Personal bei Annegret Kramp-Karrenbauer. Und das ist ein dramatisches Scheitern, denn sie ist am Anfang spektakulär erfolgreich und scheitert dann aber überall. Das Interessante ist, dass Merkel ihr nicht die Hand reicht. Es ist nicht so, dass Merkel ihr den Weg ebnet, sondern Merkel sieht zu, was da passiert. Als es dann nicht klappt, klappt es eben nicht. Un dann kommen die anderen Männer und die stehen für unterschiedliche Konzepte.

Welche?
In der Corona-Krise hatten Armin Laschet und Markus Söder einen deutlichen anderen Ansatz und haben sich darüber profiliert und darüber am Ende auch bekämpft. Es geht nicht nur um Egos. Es steht auch die Frage dahinter, wie funktioniert Politik heute. Das war am Ende in der CDU auch die Frage, was bleibt von uns übrig. Werden wir wie die ÖVP? Bekommen wir einen Sebastian Kurz oder werden wir wie „République en Marche“ von Macron. Das ist etwas Kern-Deutsches, dieses System der Volksparteien. Die eine Volkspartei ist schon fertig, die SPD. Mit den Grünen ist zwar eine Ersatzformation angetreten. Aber die letzte Volkspartei stellt in dieser Schlussphase solch elementare Fragen. Was sind wir für eine Demokratie? Wer entscheidet jetzt eigentlich bei uns? Sind es Stimmungen im Volk oder die Gremien der Partei? Wolfgang Schäuble spricht vom Wesenskern der Bundesrepublik. Das sind schon die ganz großen Fragen.

Hat es nicht viel damit zu tun wie Merkel Politik betreibt. Überfordert sie mit ihrem Stil nicht ihre Partei?
Ich glaube, das Gegenteil ist richtig. Sie unterfordert ihre Partei. Das war ja das Bemerkenswerte. Das ist der Sinn und die Funktion von Parteien, dass sie überlegen, welches Programm sie zur Wahl stellen und welches Personal sie den dem Wähler anbieten. Die CDU ist damit komplett überfordert und kann diese Debatten gar nicht mehr führen. Deshalb entgleiten ihnen die Partei ja. Deshalb kann auch ein Markus Söder so stark werden, weil es in der CDU diese große Schwäche gibt, diese Entwöhnung von inhaltlichen Debatten. Gleichzeitig gibt es dieses Personal, das ein Großteil der Bevölkerung Leute nicht für erstligafähig hält. In dieser Hinsicht hat Merkel ihre Partei überfordert. Das ist wie bei einem Sportler, der viele Jahre nicht trainiert und dann ist plötzlich Wettkampf und man merkt, dass man nicht fit ist.

Hat Merkel ihr Erbe nicht richtig anlegt?
Im Buch zitiere ich ein Schlüsselzitat von Merkel: „Ich bringe Leute in Position, laufen müssen sie dann selbst.“ Das hat etwas sehr Hartes. Das kann man auch sehr deutlich sehen im Fall Kramp-Karrenbauer. Denn sie hat ein ganz klassisches Verständnis von der CDU als Familie. Dahinter steckt die Idee: Ich bin loyal zu dir und erwarte dann auch von dir Loyalität. Wenn ich in Schwierigkeiten gerate, dann hilfst du mir, denn ich würde dir auch helfen. Diese Hilfe kommt aber nicht. Merkel schaut sich das an uns sagt: Okay, wer hier als Partei-Vorsitzender überfordert ist, der kann auch nicht Kanzler sind. Als wäre die Politik ein Assessment-Center. Wenn man es hart sagen will, hat das etwas Sozial-Darwinistisches. Merkel schaut sich an, wer sich durchbeißt, weil sie denkt, dass dieses Durchbeißen erst die Qualifikation ist.

Und der Machtkampf danach?
Dann kommt es erst zu der absurden Situation, dass drei Männer antreten, die ihr in zentralen Punkten widersprochen haben. Bei Friedrich Merz ist es noch der einfachste Fall, denn Merz war immer gegen Merkel. Den hat sie damals tatsächlich weggebissen und der hält die ganze Kanzlerschaft für einen historischen Irrtum. Danach haben wir Armin Laschet, der Merkel immer getragen hat und für ihren liberalen Kurs steht. Nur in der Corona-Frage hat er eine andere Meinung und sie reicht ihm nicht die Hand. Andererseits haben wir Markus Söder, der Merkel bekämpft hat wie niemand sonst. Denken Sie an das Zitat aus dem bayrischen Landtagswahlkampf – und das ist erst zwei Jahre her: „In meinem Wahlkampf tritt keine Bundeskanzlerin auf, sondern ein Bundeskanzler, nämlich Kurz.“ Kurz statt Merkel. Dass dann innerhalb dieser Corona-Krise dieser Rollenwechsel gelingt, vom allerhärtesten Merkel-Kritiker zum engsten Verbündeten und Laschet, der sein ganzes Leben für die liberale CDU stand, plötzlich in der anderen Ecke steht, das ist schon spektakulär. Dass sich Merkel diesen Prozess einfach nur anschaut wochenlang und in der entscheidenden Sitzung, wo sie sechs Stunden zugeschaltet ist, aber kein einziges Wort spricht. In der vielleicht wichtigsten Sitzung der CDU der letzten 50 Jahre wird abgestimmt und Merkel enthält sich. Das ist schon etwas Besonderes.

Bringt sie sich damit um ihr Erbe?
Das ist noch die große Frage. Von den drei Leuten, die jetzt in Deutschland antreten, sagt der eine, nämlich Laschet, ich bin Merkels Erbe, denn ich bin auch in der CDU. Dann kommt die Nächste, die Grüne Annalena Baerbock, und sagt, ich bin auch eine Frau, ich bin Merkels Erbin. Schließlich kommt der Dritte, der Sozialdemokrat Olaf Scholz, und sagt, ich habe schon acht Jahre mit Merkel regiert und ich bin genauso drauf wie sie. Ich bin eigentlich Merkels Erbe. Es gibt drei unterschiedliche Claims dieses Erbe anzugehen und Frau Merkel hat bis jetzt nicht erkennen lassen, wo ihre Präferenz liegt.

Ein Zitat eines Politologen lautet: „Frau Merkel hat etwas Chinesisches“. In China sind eher immer Naturwissenschaftler in der Regierung gewesen, in Europa eher Sozialwissenschaftler. Im Westen versuchen wir über eine Theorie ein Problem zu beschreiben und es dann zu lösen. In China ist es genau anders herum. Da löst man das Problem und versucht hinterher eine Theorie zu machen. Merkel regiert ähnlich problemorientiert. Können wir uns diese Frau auch deshalb nicht erklären, weil sie dieser Logik widerspricht?
In jedem Fall ist sie eine große China-Begeisterte. Das finde ich eine bemerkenswerte Entwicklung bei ihr. Sie hat etwas, wenn man das ins Positive drehen will, von Karl Popper: Politik ist „piecemeal engineering“ oder Sozialtechnik. Wo ist das nächste kleine Schräubchen, was liegt auf dem Schreibtisch und muss wegentschieden werden. Da haben die Grünen einen sehr anderen Zugang. Sie betonen, man muss raus aus der Krisenbewältigung und ins Präventive kommen. Merkel hat sich in der Corona-Krise stark auf Karl Lauterbach gestützt, der ist Sozialdemokrat und Gesundheitspolitiker. In der Euro-Krise hat der Staatssekretär Jörg Asmussen eine Zeit lang eine Riesenrolle gespielt, der ist Sozialdemokrat. Auch ihre Integrationspolitik ist nicht CDU gewesen. Wenn man es positiv sehen will, kann man sagen, dass sie da völlig unideologisch ist, wenn man es kritisch sehen will, kann man sagen „beliebig“.

In Ihrem Buch kommen Söder und Laschet nicht gut weg. Müssen wir uns fürchten?
Armin Laschet ist in vielen diesen Dingen konservativer als Angela Merkel. Dieses Europa-Bekenntnis von Laschet liegt sehr auf der Linie von Kohl und reicht sogar bis Adenauer. Auch die West-Bindung ist sehr stark bei ihm. Da ist er fast bundesrepublikanischer als es Merkel je war. Die Frage ist, wie besteht er da solche Stress-Tests?

Bei uns in Österreich gibt es dieses Bild, dass sich Kurz und Merkel nie so richtig riechen konnten und Söder und Kurz eigentlich die besten Freunde sind. Stimmt dieses Bild?
Laschet stand in der Flüchtlingskrise im scharfen Gegensatz zu Kurz. Da war Laschet der überzeugteste Christdemokrat überhaupt, der offenen Grenzen. Laschet hat einen sehr traditionellen Angang an die CDU. Wenn er Merkel kritisiert, dann sagt er, wir haben zu viel „One Woman Show“ gemacht. Die Partei muss eine soziale Figur haben, eine christliche, eine konservative, eine, die in die Wirtschaft strahlt. So war das bei Helmut Kohl auch. Bei Kohl gab es Minister, die waren populärer als er selbst. Bei Merkel gab es nur „Merkel“ und die Minister waren wirklich nicht gut. In diesem Sinne ist Laschet konservativer und das ist das Gegenteil dessen, was Sebastian Kurz mit der ÖVP gemacht hat.

Wo haben sie das konkret gemerkt?
Ich fand erstaunlich, welch krasse Rolle dieses Österreich-Beispiel explizit in dieser Söder-Laschet-Entscheidung gespielt hat. Wenn wir uns als CDU von Söder die Kanzlerkandidatur abnehmen lassen, dann droht uns das Schicksal der „alten“ ÖVP. Das ist bemerkenswert, denn so präsent ist österreichische Politik in Deutschland selten. In der innerparteilichen Begründung gegen Söder war das ein wunder Punkt. In der CDU haben das viele nicht verstanden und gefragt: Was wollt ihr, der regiert doch erfolgreich? Für die ist das Modell Kurz immer noch erfolgreich. Aber es gibt in der CDU erstaunlich viele wichtige Leute, die sich vor dem Weg der ÖVP fürchten. Das war mir vorher auch nicht so klar. 

Wie ist das Verhältnis von Kurz und Laschet, Merkel sowie Söder auf persönlicher Ebene?
Der Politiker, der von der CDU am besten mit Kurz konnte, war Jens Spahn, der auch mal zum Opernball geflogen ist. Merkel hat generell ein instrumentelles Verhältnis auf solchen Ebenen. Der österreichische Bundeskanzler muss ein wichtiger, guter Gesprächspartner sein. Das war Werner Faymann aber auch. Alexis Tsipras war ein Politiker, der von ganz links kommt und eine Kampagne gemacht macht, wo Merkel persönlich diffamiert wurde. Das war ihr völlig egal. Sobald er im Amt ist, muss mit ihm umgegangen werden. Was aber der entscheidende Unterschied von Kurz zu anderen Politikern ist: Er versucht, eine Figur im öffentlichen Diskurs Deutschlands zu werden. Wenn Kurz in Berlin ist, macht er mit mir ein Interview oder er geht in Talk-Shows. Das macht ein anderer ausländischer Politiker nicht. Ich würde mir das so erklären, dass Kurz glaubt, dass die Österreicher es gut fänden, wenn ihr Kanzler in Deutschland angesagt ist. Er glaubt, dass ein positives Bild von ihm in Deutschland rückwirken könnte nach Österreich.

Mitunter sind Interviews in deutschen Medien sogar attraktiver als mit den hiesigen.
Und das ist ungewöhnlich, denn das macht kein anderer. Eine Zeit lang war Kurz auch in der Migrationspolitik eine Kristallisationsfigur für die Merkel-Kritik. Damals hat sich Söder an ihn angelehnt, im Wahlkampf sogar „Kurz statt Merkel“, aber bei Corona ist er ja mehrmals mit ihm aneinander gerasselt. Da kennt er dann auch keine Verwandten. Von daher würde ich sagen, dass alle drei ein strikt instrumentelles Verhältnis zueinander haben.

Robin Alexander
Robin Alexander © Welt
Machtverfall - Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Siedler Verlag. 384 Seiten. 22,70 Euro.
Machtverfall - Merkels Ende und das Drama der deutschen Politik. Siedler Verlag. 384 Seiten. 22,70 Euro. © Siedler Verlag