Noch vor drei Jahren war Annalena Baerbock in der Öffentlichkeit weithin unbekannt, nun schreibt sie für die Grünen Geschichte. Die 40-Jährige ist die erste Kanzlerkandidatin ihrer Partei. Mit der Realpolitikerin will die einstige Öko- und Friedenspartei bei der Bundestagswahl im September zur stärksten politischen Kraft aufsteigen.

Die Völkerrechtlerin ist ehrgeizig, gilt in der Partei als teamfähig, sehr gründlich und sattelfest in allen wichtigen Themen. Seit sie gemeinsam mit Robert Habeck im Jänner 2018 an die Parteispitze gewählt wurde, hat sie sich viel Zuspruch erarbeitet. In einem Kabinett saß sie allerdings noch nicht. Mit Baerbock grenzen sich die Grünen klar von Union und SPD ab, die das Kanzleramt mit regierungserprobten Männern fortgeschrittenen Alters erobern wollen.

Matthias Jung von der Forschungsgruppe Wahlen sagt, mit der Kanzlerkandidatur entstehe eine ganz andere Sichtweise bei den Wählerinnen und Wählern. "Die Hürden werden hoch gelegt. Man muss alle Themen glaubwürdig und mit Kompetenz repräsentieren können." Das muss die gebürtige Niedersächsin, die mit ihrer Familie in Potsdam lebt, nun unter Beweis stellen. "Niemand ist so tief in den Details drin wie sie", sagt eine Grünen-Bundestagsabgeordnete. Sie mache ihre Hausaufgaben, ergänzt ein Fraktionskollege, und komme damit auch bei der Wirtschaft gut an. Vor allem bei Frauen, die die Grünen überdurchschnittlich oft wählen, und Familien könnte sie punkten. In der Corona-Krise hat die mit einem Unternehmens-PR-Manager verheiratete Mutter zweier Töchter immer wieder Versäumnisse in Schulen und Kitas angeprangert.

Als Frau hat sie ein Alleinstellungsmerkmal im Kanzlerkandidaturen-Trio von Grünen, Union und SPD. Das soll für die Entscheidung, mit Baerbock statt Habeck Kurs auf die Nachfolge der CDU-Kanzlerin Angela Merkel zu nehmen, aber nicht die entscheidende Rolle gespielt haben. "Das kann, muss aber nicht zwingend ein Vorteil sein", sagt Infratest-Wahlforscher Stefan Merz. "Auch den Altersunterschied könnte sie ausspielen."

Es bleibt ein Hauptmanko: Baerbock bringt keinerlei Regierungserfahrung mit. Im Bundestag war sie seit 2013 zunächst klimapolitische Sprecherin ihrer Fraktion und besetzte damit das Ur-Thema der Grünen. 2018 gelang ihr mit der Wahl zur Parteichefin der Überraschungscoup. Den hatte sie nach Angaben aus der Partei durch ein enges Netzwerk vor allem in der Fraktion vorbereitet und besiegelte das Ganze mit einer leidenschaftlichen Bewerbungsrede. Damals brachen die Grünen mit dem Prinzip, die Doppelspitze mit Vertretern beider Flügel - Realos und Fundis - zu besetzen. Denn Baerbock und Habeck gehören beide zu den Realpolitikern. Seit dieser Entscheidung ist es mit den Grünen in Umfragen steil nach oben gegangen, auch weil das Spitzenduo miteinander konnte und nicht gegeneinander arbeitete.

Unterstützer ihrer Kanzlerkandidatur lassen nicht gelten, dass fehlende Regierungsämter eine Schwäche darstellten. Regierungserfahrung sammele man im Amt. Ihr Aufstieg bei den Grünen belege Baerbocks Durchsetzungsfähigkeit. Ein anderes Parteimitglied verweist darauf, dass auch die Mitbewerber von Union und SPD noch nie Kanzler gewesen seien. Als Mutter zweier Töchter, von denen die jüngste erst noch eingeschult werde, sei Baerbock zudem nahe an den Erfahrungen großer Teile der Bevölkerung.

Es gebe Momente im Leben, da gelte es, auf die innere Stimme zu hören, sagte Baerbock im Herbst 2020 in einem Interview, "und zu sagen: 'Jetzt springe ich.'" In ihrer Jugend betrieb sie Trampolinspringen als Leistungssport, gewann Bronze bei Deutschen Meisterschaften. Sie habe gelernt, ihre Stärken einzuschätzen: "Man muss Mut haben, aber keinen Übermut." Ihren Mut kann sie nun im Wahlkampf unter Beweis stellen - auch im direkten Duell mit SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz, der wie Baerbock in Potsdam um ein Direktmandat für den Bundestag kämpft.