Bei Krawallen in der nordirischen Hauptstadt Belfast ist am Mittwochabend ein Linienbus in Brand gesetzt worden. Die Polizei rief die Bevölkerung auf, Areale zu meiden, in denen sich Menschen zusammengerottet hatten. Symbolisch: Der Vorfall ereignete sich an einer Kreuzung zwischen einem protestantischen und einem katholischen Wohnviertel. Zu schweren Ausschreitungen war es in Nordirland bereits am Osterwochenende gekommen: Gruppen von überwiegend Jugendlichen - selbst 13- und 14-Jährige waren darunter gewesen - hatten unter anderem in Newtownabbey, Carrickfergus und Londonderry Polizisten mehrere Nächte in Folge mit Steinen, Flaschen und Molotow-Cocktails beworfen. Mehrere Autos waren angezündet worden. Etwa 40 Beamte sind bei den nächtlichen Krawallen mittlerweile verletzt worden.

Hintergrund der Gewalt sind politische Spannungen zwischen den probritischen Unionisten einerseits und den Anhängern eines vereinigten Irlands andererseits - sowie der Polizei. Vorgeblicher Anlass ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, hochrangige Politiker der katholisch-republikanischen Sinn-Fein-Partei nach der Teilnahme an der großen Beerdigung eines ehemaligen IRA-Terroristen nicht wegen Verstößen gegen die Corona-Regeln zu belangen. 

Problematisch sind nicht zuletzt auch die seit dem Brexit geltenden Sonderregeln und Warenkontrollen in Nordirland, die immer wieder für Komplikationen und Streit in der ehemaligen Bürgerkriegsregion sorgen: Das "Protokoll zu Irland und Nordirland" wurde als stabile und dauerhafte Lösung konzipiert, um eine harte Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem ausgetretenen Nordirland zu vermeiden, reibungslose Wirtschaftsabläufe auf der gesamten Insel zu ermöglichen und das Karfreitagsabkommen in all seinen Aspekten aufrechtzuerhalten. Mittlerweile tun sich aber immer mehr Bruchlinien und Probleme auf.

© Ivan Ewart

Die nordirische Konfliktforscherin bzw. Brexit-ExpertinKaty Hayward von der Queen's University in Belfast gibt im Interview mit der Kleinen Zeitung ihre Einschätzung der Situation.

Miss Hayward, Erinnerungen an vergangen geglaubte, blutige Jahrzehnte werden derzeit in Nordirland wieder allzu wach. Warum kommt es nun wieder verstärkt zu Gewalt?
KATY HAYWARD:
Die Situation ist äußerst angespannt. Für diejenigen, die sich für den Frieden einsetzen, ist es schwierig, junge Menschen von den Straßen fernzuhalten. Diese werden von den sozialen Medien dazu angeregt, ihr Engagement als "patriotische Loyalisten" zu beweisen. Loyalistische Gruppen, die mit Kriminalität in Verbindung stehen, sehen hier auch die Möglichkeit, ihre Macht in der lokalen Gemeinschaft durch Demonstration von Stärke und Einschüchterung wieder zu stärken. Und manche Jugendliche finden "Sinn", Kameradschaft und wohl auch "Spaß" in den Unruhen. Sie glauben ohnehin nicht, dass sie viel zu verlieren haben.



Es gibt Zweifel und Misstrauen gegenüber den Institutionen für Recht und Ordnung - wie macht sich das bemerkbar?
Die Erste Ministerin Arlene Foster von der Democratic Unionist Party erneuerte ihre Forderung nach dem Rücktritt des obersten Polizeichefs. Das Vertrauen in die britische Regierung, die den Unionismus mit dem Protokoll zu Irland und Nordirland "verraten" habe, ist gering. Viele sind desillusioniert, was das Karfreitagsabkommen vom 10. April 1998 betrifft. Die Frage ist, wie man den Geist wieder in die Flasche steckt. Das wird ein langer und komplizierter Prozess sein.

Wie groß ist die Gefahr, dass alte Konflikte wieder vollends aufbrechen? Wie stark kann die "New IRA" (Real Irish Republican Army) werden?
Paramilitärische Organisationen existierten nach dem Karfreitagsabkommen weiter. Ich mache mir keine Sorgen darüber, dass andersdenkende Loyalisten oder Republikaner stärker werden - Sorgen bereitet mir jedoch sehr wohl, dass das herrschende politische Umfeld als Rechtfertigung für gewalttätige Aktivitäten hergenommen wird.



Wie ist die Stimmung in Nordirland allgemein?
Jeder fühlt sich ein bisschen "angeschlagen". Denken Sie daran, dass der Brexit gerade in Nordirland besondere Unsicherheit hervorrief und heftig diskutiert wurde. Im Vereinigten Königreich wurde mehrheitlich für ein Verlassen der Europäischen Union gestimmt - in Nordirland und in Schottland hingegen überwiegend für einen Verbleib in der EU. Die Unsicherheit hielt während der Übergangszeit an, zumal es an Klarheit darüber fehlte, was das Protokoll nun genau bedeute. Es war ein äußerst schwieriges Umfeld, um Entscheidungen für die Zukunft zu planen und zu treffen. Auch der Umgang mit der Coronavirus-Pandemie führte innerhalb der Koalitionsregierung zu heftigen Disputen.

Wie gefährlich bzw. problematisch sind die Sonderregeln und Warenkontrollen, die in Nordirland seit dem Brexit gelten?
Das Handelsvolumen zwischen Großbritannien und Nordirland ist fünfmal so groß wie zwischen Nordirland und der Republik Irland. Die neuen Barrieren und die Auswirkungen für die nordirische Wirtschaft sollten nicht unterschätzt werden. All das ist auch symbolisch äußerst schwer zu akzeptieren! Die irische See ist Verbindungslinie zwischen Nordirland und Großbritannien, ebenso wie die Landgrenze für Nationalisten eine Verbindungslinie zwischen Nordirland und der Republik Irland ist. Prinzipiell gilt: Jede Störung an einer der Grenzen ist äußerst heikel.

© AP (Peter Morrison)

Was ist von den Unionisten zu halten?
Unionisten vertrauen weder der Europäischen Union noch Großbritannien. Sie befürchten, dass die EU der irischen Regierung zu nahe steht und Hintergedanken hat. Sie denken, dass es eine harte irische Seegrenze gibt, weil Nationalisten den Streit "gewonnen" haben. Und andererseits fühlen sie sich auch von der britischen Regierung betrogen, weil sie wissen, dass diese das Protokoll zu Irland und Nordirland ausgehandelt hat.

Zuletzt verstärkten sich die Signale, dass das Vereinigte Königreiche porös wurde. Wie wahrscheinlich ist ein vereinigtes Irland tatsächlich?
Nicht alle Umfragedaten zeigen einen Trend zur Unterstützung eines vereinigten Irlands. Wir haben jedoch eine Stärkung der nationalistischen Stimmung unter den Nationalisten und eine wachsende Erwartung einer irischen Einigung gesehen. Es ist eine Möglichkeit, aber es ist unwahrscheinlich, dass die britische Regierung ein Referendum über die irische Einheit einberuft, bis sie starke Beweise dafür sieht, dass "es" passieren würde.

Was ist mit der jüngeren Generation in Nordirland - interessiert die sich noch für die politischen Entwicklungen?
Durchaus! Menschen unter 35 interessieren sich aber stärker für verschiedene Arten von Politik als etwa für Gruppen wie jene der Nationalisten. Die Brexit-Debatte schien für eine Weile eine andere Art von Politik zu bieten, daher auch der Anstieg der Unterstützung für die Grünen und die Allianzpartei, die für den Verbleib waren.

Der britische Premierminister Boris Johnson: ein Buhmann in Nordirland?
Seine Popularitätswerte waren und sind hier sehr niedrig. Die Mehrheit, die für einen Verbleib in der EU war, mag ihn nicht, weil er "raus" wollte. Unionisten mögen ihn wegen des Protokolls nicht.

Wie kann es Ihrer nach Ansicht weitergehen, um die Situation nicht nochweiter eskalieren zu lassen? Womit wären Politik und Volk gut beraten?
Weiter reden! Flexibilität zeigen! Pragmatisch sein! Und die Mechanismen des Dialogs im Protokoll einsetzen, um Lösungen zu finden.