Es ist nicht die Art von Nachricht, die sensationelle Schlagzeilen erzeugt. Die Rechtsexperten der EU-Kommission, so wurde am Mittwoch bekannt, seien in „internen Gutachten” zum Schluss gekommen, Ungarns Ausnahmezustandsgesetz in der Coronakrise sei formal EU-konform. Nichts darin verstoße gegen EU-Regeln. Insofern werde die Kommission „vorerst” nichts dagegen unternehmen. Allerdings werde man das Land weiter „genau beobachten” – denn obwohl der Gesetzestext nicht gegen Grundrechte verstoße, könne seine Umsetzung potenziell problematisch werden.

Insbesondere geht es um das Fehlen einer konkreten zeitlichen Begrenzung des Ausnahmezustands, und um hohe Haftstrafen für das “absichtliche Verbreiten falscher Nachrichten”, wenn diese den Kampf gegen die Seuche beeinträchtigen.

Unter Beobachtung

Zu beiden Punkten schrieben die Gutachter, die EU-Kompatibilität dieser Passagen werde sich in der Implementation zeigen. Wenn der Ausnahmezustand mit Abklingen der Epidemie aufgehoben wird, war es kein Problem – wenn darüber hinaus bestehen bleibt, ist es sehr wohl eines. Ebenso die Strafen für die Verbreitung gefährlicher Falschmeldungen: Wenn es dazu dient, Journalisten einzuschüchtern, dann ist das ein Problem, wenn nicht, dann nicht.

Das war allerdings so leise, dass es kaum zu hören war – ganz anders als die lauten, publikumswirksam inszenierten Statements nationaler und europäischer Politiker zum Gesetz in den Wochen davor. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen hatte erklärt, sie mache sich „besonders wegen Ungarn” Sorgen,werde das Land “genau beobachten, und gegebenenfalls “einschreiten”. Das EU-Parlament verabschiedete eine Resolution, in der Ungarns Ausnahmegesetz als „total gegen die europäischen Werte” bezeichnet wird. EVP-Präsident Donald Tusk verglich es indirekt mit Hitlers Ermächtigungsgesetz.

Hintergrundbriefings

Jetzt sind es keine offiziellen Statements vor versammelten Medien, mit denen Ungarn „freigesprochen” wird, sondern Hintergrundbriefings und nicht genannte „hochrangige Quellen”. Denn was es bedeuten kann, öffentlich bei den Tatsachen zu bleiben, das muss Vera Jourova, die EU-Kommissarin für „Werte und Demokratie” erleben. Sie hatte in einem Interview mit der „Welt” gefordert, Ungarn müsse seinen Ausnahmezustand in absehbarer Zeit beenden. Daraufhin war sie von rechten Kreisen in Ungarn und Polen als Musikantin im „Soros-Orchester” attackiert worden. Andererseits wurde sie ansonsten überall gelobt für ihre standfeste Haltung.

"Warum so unpolitisch?"

Dann jedoch sagte sie – zunächst in einem Interview für das tschechische Fernsehen, dann auf Euronews – nichts in dem ungarischen Gesetz verstieße gegen EU-Recht. Ungarn-Kritiker waren entsetzt und attackierten die Kommissarin vehement. „Selbst wenn sie keine solide Grundlage hat für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn, warum ist sie so unpolitisch und gibt das zu? Warum blieb sie nicht einfach still?”, schrieb Dániel Hegedüs, Experte beim German Marshall Fund und seit Jahren ein scharfer und medial einflussreicher Kritiker von Orbáns Politik in einer Salve von Twitter-Botschaften gegen Jourova. Es war entlarvend – eine Forderung, EU-Kommissare müssten „politisch” vorgehen statt sich neutral an die Fakten zu halten.

"Diktatorisch" und "Quasi-diktatorisch"

Der linke Guardian schrieb von „diktatorischen Vollmachten” Orbáns, die konservative Times nannte es „quasi-diktatorisch”. Dieser Artikel steht nun mit dem Vermerk auf der Internetseite der Zeitung, er sei Gegenstand einer rechtlichen Klage der ungarischen Botschaft.
Ein Sturm im Wasserglas also – nach Verabschiedung des Gesetzes am 30. März stand Ungarn einen Monat lang am Pranger, offenbar ohne echte Schuld. Man darf sich fragen, ob diese Art des Umgangs miteinander gut ist für Europa.