Die Uhr tickt immer lauter. Ganze acht Wochen noch, dann will Äthiopien beginnen, das gigantische Becken des „Grand Ethiopian Renaissance Dam“ (GERD) mit Nilwasser zu füllen – ohne Rücksicht auf die flussabwärts liegenden Anrainer Ägypten und Sudan. Die 4,8 Milliarden Dollar teure Staumauer ist zu drei Viertel fertig. Die ersten beiden der 13 Stromturbinen sind einsatzbereit. Ende Juni mit Beginn der Regenzeit soll es losgehen, 2025 will man fertig sein.

Knapp zehn Jahre lang versuchten die drei Nil-Nationen, ihre Streitpunkte um das kolossale Stauprojekt zu entschärfen – allen voran die zeitliche Dauer der Befüllung, aber auch die garantierte jährliche Durchflussmenge für Sudan und Ägypten sowie die Pflichten Äthiopiens im Falle einer Dürre. Im vergangenen November war die diplomatische Lage dann so verfahren, dass die Regierungen sogar den amerikanischen Präsidenten Donald Trump als Vermittler zu Hilfe baten. Die Gespräche laufen gut, twitterte der Mann im Weißen Haus – doch dann verweigerten Äthiopien und Sudan Ende Februar in letzter Minute ihre Unterschriften unter den fertigen Kompromiss. „Die abschließenden Tests und die Befüllung sollten nicht beginnen ohne eine Einigung“, gab US-Finanzminister Steven Mnuchin nach dem geplatzten Gipfel entnervt den Delegationen aus Addis Abeba, Kairo und Khartum als Mahnung mit auf den Heimweg.

Für Ägypten reicht das Wasser schon jetzt kaum

Mittlerweile jedoch hat die Corona-Krise den vertrackten Nilstreit von der internationalen Agenda verdrängt. Donald Trump kennt seit der Virus-Pandemie nur noch ein Thema. In Ägypten und im Sudan wächst die Angst vor inneren Unruhen durch eine verheerende Masseninfektion. Äthiopien dagegen will den globalen Ausnahmezustand jetzt offenbar nutzen, um einseitig Fakten zu schaffen. Vor allem in Kairo, das zu 95 Prozent vom Nilwasser abhängig ist, schrillen die Alarmglocken. Schon jetzt reicht die Wassermenge für die 100 Millionen Ägypter kaum mehr aus.Würde der Fluss von Sommer 2020 an für die geplanten fünf Jahre deutlich gedrosselt, könnten Felder im Niltal veröden, Trinkwasserbrunnen austrocknen und salziges Mittelmeerwasser in das dicht besiedelte Delta hineindrücken. „Äthiopien hat das Recht zu wachsen, Ägypten aber hat auch das Recht zu leben“, deklamierte eine Online-Petition besorgter Bürger, die bisher von mehr als 110.000 Ägyptern unterschrieben wurde.

Selbst eine militärische Konfrontation scheint nicht mehr ausgeschlossen. Die äthiopische Armee hielt kürzlich nahe dem Staudamm Manöver ab, die demonstrativ im Staatsfernsehen übertragen wurden. Ägyptens Generäle führen Gespräche mit Eritrea über einen Marinestützpunkt. Wasserminister Mohamed Abdel Aty drohte, seine Regierung werde Äthiopien nicht erlauben, mit dem Befüllen ohne einen umfassenden und verbindlichen Vertrag zu beginnen. Der Nil sei eine Existenzfrage der Nation, deklamierte Staatschef Abdel Fattah al-Sisi. Zudem definiert Ägyptens Verfassung den Schutz der „historischen Rechte“ an dem Strom als Staatsziel.

Es herrscht ein Klima des wechselseitigen Misstrauens

Damit gemeint sind die Abkommen von 1929 und 1959, die von Äthiopien jedoch nie anerkannt wurden. Mit ihnen sicherten sich die beiden Unterlaufstaaten mit 87 Prozent den Löwenanteil des Flusses – Ägypten 55,5 Milliarden und Sudan 18,5 Milliarden Kubikmeter pro Jahr. In den gescheiterten Verhandlungen forderte Kairo jetzt während der Fülljahre einen jährlichen Durchfluss von mindestens 40 Milliarden Kubikmetern, Addis Abeba bot lediglich 31 Milliarden. Der Kompromiss von Washington sah mindestens 37 Milliarden vor. Im Gegenzug verlangte Äthiopien für Dürrezeiten ein Mindestvolumen im Staubecken, damit die Stromturbinen nicht abgeschaltet werden müssen. Ägypten dagegen pochte auch bei Regenarmut auf eine garantierte Durchflussmenge sowie das Recht, die Schleusen vor Ort durch eigene Experten zu überwachen. Denn Kairos Verantwortliche argwöhnen, dass sich ihre äthiopischen Widersacher künftig gar nicht mehr in die Karten schauen lassen wollen, um möglichst freie Hand zu haben.

In diesem Klima des Misstrauens steht Sudan zwischen den Fronten. Seine post-revolutionäre Führung ist beim Nildossier gespalten. Der vor einem Jahr nach dem Sturz von Diktator Omar al-Bashir an die Macht gekommene zivile Ministerpräsident Abdalla Hamdok neigt der äthiopischen Seite zu, weil er und seine Führungsmannschaft lange in Addis Abeba gelebt und enge Kontakte zu Äthiopiens Premier Abiy Ahmed haben. Sudans Armeespitze dagegen, darunter der berüchtigte Ex-Milizenchef Mohamed Hamdan Dagalo, sieht sich aus strategischen Gründen fest an der Seite Ägyptens und seinem Präsidenten, Ex-Feldmarschall Abdel Fattah al-Sisi. Ende April will Hamdok nach Addis Abeba und Kairo reisen.

Beide Hauptstädte umwerben den Besucher aus Khartum und wollen ihn mit dem Angebot von billigem Strom auf ihre Seite ziehen. Ägypten hat seit dem Bau der drei Siemens-Gaskraftwerke Überkapazitäten. Äthiopien will möglichst bald durch den neuen Megadamm liefern. Anders als Ägypten jedoch hat Sudan kein Problem mit einem reduzierten Nilwasser-Volumen, im Gegenteil. „Dafür werden die Fluten künftig reguliert“, zitierte das ägyptische Online-Portal Mada Masr einen sudanesischen Politiker, der ungenannt bleiben will. Aus seiner Sicht hat der Sudan durch den neuen Damm nur Vorteile. „Wir bekommen enorm billigen Strom, den wir dringend für unsere Entwicklungspläne brauchen.“ Gleichzeitig würden die verheerenden Überschwemmungen gestoppt, was deutlich bessere Ernten entlang des Stromes erlaubt. „Wir würden Ägypten gerne helfen“, erklärte er. „Doch ich weiß nicht, wie wir das konkret tun könnten.“