Samuel Peterschmitt, dem sie jetzt Morddrohungen schicken, ist ein charismatischer Pastor mit sanfter Stimme. Sein Gotteshaus im Gewerbegebiet von Bourtzwiller, einem Teil der elsässischen Stadt Mülhausen, war ein riesiger Supermarkt, bis sein Vater ein Kreuz aufs Flachdach pflanzte und seine Freikirche gründete. Dieser Tage wütet Covid-19 im Osten Frankreichs, die Intensivbetten reichen nicht mehr, und das hat auch mit Peterschmitt und seiner Kirche zu tun.

Man kann den Pastor nicht mehr persönlich treffen, Frankreich sitzt seit 20 Tagen im Lockdown, aber nach Videos zu urteilen, ist der 55-jährige Pastor ein schlanker Mann, grauhaarig, blauäugig. Und untröstlich, das ist am Telefon zu hören.

Seine Kirche misst 7000 Quadratmeter. In den Hauptsaal passen 2200 Menschen, und oft ist er voll, auch Mitte Februar war das so, als Peterschmitt zur alljährlichen Gebets- und Fastenwoche rief. Aus allen Teilen Frankreichs waren die Gläubigen angereist. Dass sich der Kirchentag heuer zu einer „Atombombe“ entwickeln würde, wie es der Gesundheitsamtschef des Elsass später formulierte, ahnte niemand. „Wir waren das Feuer in einem Wald, wo die Glut überall unbemerkt flackerte“, sagt Peterschmitt.

Die Geschichte geht so: Als das Treffen der Gläubigen am 21. Februar zu Ende geht, fühlt sich der Pastor schwach. Er bekommt Fieber, beginnt zu husten. Auch sein Sohn Jonathan, 33, ein Hausarzt in Bernwiller, 20 Kilometer von Mülhausen, wird krank. Er alarmiert die Behörden, die ihn testen. Das Ergebnis ist positiv. Peterschmitts sechs Kinder, seine 13 Enkel, seine Frau, alle 22 Familienmitglieder erkranken, „sogar die Babys“. Über eine Woche liegt er auf der Intensivstation und fühlt sich „wie eine Flamme, die langsam erlischt“.

Das perfekte Terrain für das Virus

Wer sich die Gottesdienste der Freikirche im Netz ansieht, ahnt, welch perfektes Terrain die spirituelle Exaltation für ein reproduktionsfreudiges Virus bietet: Man betet zusammen, man singt, jubiliert, man wirft die Arme in die Luft, fasst sich an den Händen, umarmt sich, ist sich nah, eine ganze Woche.

Atombombe? Als das Treffen der Pfingstchristen am 17. Februar beginnt, ist Frankreich offiziell im ersten Stadium der Epidemie. Die französische Gesundheitsbehörde schreibt ein Mail an alle niedergelassenen Ärzte. Es gebe „keine aktive Kette der Infektion“, heißt es darin. Die Zahl der Corona-Fälle scheint übersichtlich in Europa. Am 19. Feber wird in Codogno, in Norditalien, der 38-jährige Mattia ins Spital eingeliefert. Er geht als Patient „Nummer eins“ in die europäische Geschichte von Covid-19 ein, weil er sich zuvor nicht in China aufgehalten hat.

Wie entspannt die Lage Mitte Februar noch war, zeigt die Anwesenheit Emmanuel Macrons im Elsass. Der Zufall will es, dass der Präsident während des Kirchentags auch das Mülhausener Problemviertel Bourtzwiller besucht. Wie viele Hände schüttelt er? Neben wie vielen Gesichtern strahlt er für ein Selfie in die Kamera? Wie viele fremde Handys nimmt er in die Hand? Ein Sender titelt „Ein Tag des Kontaktes.“ Die Freikirche besucht Macron nicht. Aber „er war keine 300 Meter entfernt“, sagt Pastor Peterschmitt. Bourtzwiller ist das Ischgl der Franzosen, ohne den Schnaps und die Lügen, aber die Gläubigen tragen das Virus von hier aus ins ganze Land, in die Normandie im Norden, ins Baskenland im Süden, nach Korsika und Übersee.

Pastor Peterschmitt ist wieder genesen, aber er hustet noch immer ins Telefon. Aus Mülhausen ist das französische Bergamo geworden. Allein in Peterschmitts Gemeinde sind 22 Menschen am Virus gestorben. „Ich kann nichts anderes tun“, sagt er, „als dieses Drama aus tiefster Seele zu bedauern.“

Das schützt ihn und seine Gemeinde nicht vor Hass und Morddrohungen. Seit die Geschichte des Kirchentags die Runde gemacht hat, ist Peterschmitt zu einem Sündenbock geworden. Wildfremde Leute rufen an, nur um ihn zu beschimpfen, im Internet wird er verunglimpft. Warum das alles, fragt er sich, „sind wir denn nicht schon genug gestraft?“