Es ist eine unvorstellbare Flüchtlingstragödie, die sich in diesen Tagen in Syrien abspielt: Machthaber Baschar al-Assad treibt seine Offensive gegen die letzte RebellenenklaveIdlib voran. Im Norden Syriens sind 900.000 Menschen vor den anrückenden Truppen Assads auf der Flucht.

Die Menschen hausen bei klirrender Kälte in Bauruinen oder durchnässten Zelten. Andere harren an Straßenrändern aus - in Autos, auf Ladeflächen von Lastwagen oder in Olivenhainen unter freien Himmel.

Nirgendwo im Nordwesten Syriens ist mehr eine feste Unterkunft zu finden, sämtliche Privathäuser und öffentlichen Gebäude sind restlos überfüllt. „Alle leben in Angst und Stress“, berichtete ein Arzt, der sich in dem Flüchtlingslager Deir Hassan um die Verzweifelten kümmert. „Keiner weiß, wie die Situation am nächsten Morgen sein wird. Wir wissen nur, es wird bombardiert und die syrische Armee kommt näher.“ Die Krise habe ein „neues entsetzliches Ausmaß“ erreicht, erklärte UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock.

Helfer vom Elend überwältigt

„Unsere Situation ist katastrophal, wir haben kein Brot, kein Wasser und nichts zum Heizen“, flehte ein Mann aus dem Flüchtlingslager Qadimoon auf die Mailbox eines Mitarbeiters von „Ärzte ohne Grenzen“. Mindestens 900.000 Menschen, die meisten von ihnen Frauen und Kinder, sind seit Anfang Dezember vor den anrückenden Truppen von Diktator Bashar al-Assad und den Angriffen russischer Kampfjets in Richtung Norden geflohen. Helfer vor Ort sind von dem Ausmaß des Elends völlig überwältigt.

Die Flüchtenden machen sich mit ihren Habseligkeiten auf den Weg
Die Flüchtenden machen sich mit ihren Habseligkeiten auf den Weg © AP

Der gegenwärtige Exodus aus Idlib ist die größte Massenflucht von Zivilbevölkerung seit Beginn des bald neunjährigen Bürgerkriegs. Die syrische Armee steht mittlerweile zehn Kilometer vor Idlib-Stadt, dem Zentrum der letzten Rebellenenklave. Die internationale Diplomatie jedoch schaut weg und unternimmt praktisch nichts.

Diese „größte humanitäre Horror-Story des 21. Jahrhunderts“ könne nur durch einen Waffenstillstand abgewendet werden, erklärte UN-Nothilfekoordinator Mark Lowcock. Dazu aber müssten „die Mitglieder des UN-Sicherheitsrates ihre individuellen Interessen hintanstellen und der Humanität den Vorrang geben.“

© APA/AFP/RAMI AL SAYED

Umso lauter triumphiert das Regime in Damaskus und macht klar, dass die Besiegten keine Gnade zu erwarten haben. Die Armee werde ganz Syrien „von den Terroristen befreien“, deklamierte Bashar al-Assad im Staatsfernsehen. Mit dem Marsch auf Idlib „haben wir ihre Nasen in den Schlamm gedrückt.“ Die Großoffensive jetzt sei „der Auftakt für ihre endgültige Niederlage, die früher oder später kommt.“

Angesichts der humanitären Apokalypse verschärfte sich in den letzten Tagen auch der Ton zwischen Moskau und Ankara, den jeweiligen Schutzmächten von Assad und seinen Gegnern. In der Enklave Idlib unterhält die türkische Armee zwölf Stützpunkte, von denen einige jetzt von syrischen Truppen umzingelt sind. Und so drohte Präsident Recep Tayyip Erdogan am Mittwoch seinem Kontrahenten Assad mit einer direkten militärischen Konfrontation, sollten sich dessen Truppen nicht bis Ende Februar zurückziehen.

Assad von Erdogan-Drohungen ungerührt

Assad dagegen gab sich ungerührt. Man werde weitermachen, ungeachtet des leeren Geredes aus dem Norden, spottete er in Richtung Erdogan. Kreml-Sprecher Dmitri Peskov steuerte ebenfalls eine unverhohlene Warnung bei. Sollte es eine türkische Militäroperation „gegen die legitimen Machthaber der Syrischen Republik geben“, wäre dies „das schlechteste Szenario“. Moskau und Damaskus nämlich wollen erzwingen, dass die Assad-feindliche Bevölkerung am Ende auf einem Streifen entlang der türkischen Grenze umgesiedelt wird, der dann de facto aus dem syrischen Staatsgebiet ausgegliedert und der Türkei zugeschoben würde. Die meisten der Idlib-Vertriebenen jedenfalls sehen für sich keine Zukunft in einem Assad-Syrien.

„Wenn Du zurückgehst, können sie dich verhaften und du bleibst für den Rest deines Lebens im Gefängnis oder schlimmer“, erklärte ein Syrer dem Sender CNN, der seinen Vornamen mit Obaid angab. „Ich möchte lieber sterben, als jemals wieder unter diesem Regime zu leben.“