Wenn der Kreml das globale Netz wirklich abschalten sollte, würden alle Google-Dienste, außerdem Facebook, Instagram und Twitter ausfallen. „Das Smartphone stellt dann ein nutzloses Stück Plastik dar“, warnt der IT-Experte Alexei Tschuwaschow gegenüber dem Wirtschaftsportal „forbes.ru“. „Aber zuerst einmal passiert gar nichts.“
Gestern ist in Russland das heftig umstrittene Gesetz über das „Souveräne Internet“ in Kraft getreten. Seine Befürworter versichern, es werde die russischen Nutzer vor Cyberattacken und Abschaltversuchen aus dem Ausland schützen.

Kritiker dagegen vermuten, es diene dem Staat seinerseits dazu, missliebige Datenströme vor allem aus dem Westen zu kappen und das virtuelle Russland zu isolieren. Bisher aber funktioniert das Gesetz nur auf dem Papier.

Es befugt die Aufsichtsbehörde Roskomnadsor, im Gefahrenfall das russische Internet und seine Informationsströme zentral zu steuern. Es sieht außerdem vor, alle Punkte in einem Register zu erfassen, an denen das russische und das globale Netz Informationsströme austauschen. Und es verpflichtet die Provider, sich mit DPI-Filtertechnik auszurüsten, die den gesamten Datenverkehr nach dem Prinzip „Deep Packet Inspection“ kontrollieren und nach Bedarf blockieren kann.

"Vaterländische Technologien"

Aber dieses Gerät ist bisher offenbar nur beschränkt einsatzbereit, wie Dmitri Peskow, Präsidentenberater für Informationstechnologien, der Zeitung „Nowaja Gaseta“ gestand: „Technisch ist das Land noch nicht so weit. Es ist sehr wichtig, dass wir vaterländische Technologien entwickeln, um unsere Informationsnetze und -systeme zu schützen.“ Die Filter könnten den Internetverkehr verlangsamen. „Das ist der Preis für technologische Sicherheit, wichtig ist, dass dieser Preis in Maßen bleibt.“

Laut dem Wirtschaftsportal „rbc.ru“ wird inzwischen Filtertechnik der Firma „rdp.ru“ in den Netzen der größten sechs Mobilfunkanbieter in der Ural-Region getestet. „Aber das bewegt sich alles auf der Ebene von Gerüchten“, sagt Alexander Issawnin von der NGO „Gesellschaft zum Schutz des Internets“ unserer Zeitung.

Wie die Oppositionszeitung „Nowaja Gaseta“ schreibt, hat der Einsatz der DPI-Filter im Ural sein Hauptziel, die Blockade des missliebigen Messenger-Kanals Telegram, glatt verfehlt. Und die Nutzer dort hätten mittels eines Klicks auf ihr VPN-Programm auch weiterhin Zugang auf alle von Roskomnadsor gesperrten Portale. „Noch stehen nicht einmal die Pfähle für den Stacheldrahtzaun um das russische Internet“, spottet Issawnin. „Aber das Gesetz ist in Kraft.“ Der Staat habe sich die Möglichkeit geschaffen, die Freiheit im russischen Netz sehr weitgehend abzuschaffen.

Bürgerrechtler befürchten jetzt, wo das Filtern scheitere, werde die Obrigkeit künftig einfach abschalten. Und das komplett, wie in Inguschetien, wo im Herbst 2018 und vergangenen April angesichts von Massenprotesten das mobile Netz tagelang ausfiel.
Viele Nutzer aber glauben, das Internet werde schlechter und teurer arbeiten. Auch Geschäftsleute kalkulieren schon die künftigen Verluste. Zahlreiche russische Onlineshops nutzen ausländische Server, ob Amazon oder Instagram.

Und etwa die Moskauer Marketing-Agentur Qmarketing plant laut „forbes.ru“ die Produktions- und Verkaufsabteilungen mit 90 Prozent ihrer Mitarbeiter aus Russland nach Polen und in die USA zu verlegen. So will die Firma ausschließen, dass sie von lebenswichtigen westlichen Internetplattformen abgeschnitten wird. Ein Teil des virtuellen Russlands sucht bereits Zuflucht vor dem eigenen Staat.

„Wir hoffen auf die Korruptheit unserer Behörden“, sagt Issawnin. Für die Umrüstung auf das „souveräne Netz“ seien umgerechnet gut 420 bis 700 Millionen Euro einkalkuliert. Es sei zu wünschen, dass die Oligarchen, die den Zuschlag bekämen, einen Großteil davon verschwinden lassen. „Dann hätte sich das Projekt zuerst einmal selbst erledigt. Aber die Drohung künftiger Internetrepressalien bleibt.“