"Raus mit dem Iran, Freiheit für Bagdad", riefen die einen. Andere skandierten den Schlachtruf des Arabischen Frühlings "Das Volk will den Sturz der Regierung", während Schwaden von Tränengas durch die Straßen waberten. Seit drei Tagen erschüttert der seit Jahren schwerste Aufruhr den Irak, der vor allem unter der schiitischen Bevölkerung in Bagdad und im Süden um sich greift.

Die gewalttätigen Unruhen haben mittlerweile elf der 19 Provinzen erfasst, unter anderem die Pilgermetropole Najaf und die südirakische Hafenstadt Basra, die bereits 2018 wochenlange Tumulte erlebte. Demonstranten errichteten Barrikaden mit brennenden Autoreifen. Öffentliche Gebäude wurden gestürmt und Geschäfte verwüstet. Nach offiziellen Angaben starben Dutzende Demonstranten und ein Polizist, über 400 Menschen wurden verletzt, viele durch den Einsatz scharfer Munition. In der Nacht zu Donnerstag verhängte die Regierung „bis auf Weiteres“ eine generelle Ausgangssperre und ließ in weiten Teilen des Landes das Internet kappen.

Trotzdem gingen am Donnerstag offenbar erneut abertausende Menschen auf die Straße und lieferten sich wieder blutigen Schlachten mit der Polizei. Die Grüne Zone, in der viele Ministerien und ausländische Botschaften liegen, wurde abgeriegelt. Aktivisten aus Bagdad berichteten, es sei immer wieder intensives Gewehrfeuer zu hören.

Gegen Einflüsse von außen

Der irakische Volksärger richtet zum einen gegen den beherrschenden Einfluss des Iran. Erster Zündfunke war offenbar die plötzliche Entlassung des populären Generals Abdulwahhab al-Saadi, der als Vize-Kommandeur der Anti-Terror-Einheiten eine Schlüsselrolle beim Sieg über den „Islamischen Staat“ spielte und als Nationalheld gilt. Er hatte mehrfach das Treiben irantreuer Milizen im Irak kritisiert, die daraufhin seine Ablösung verlangten und durchsetzen. Diese so genannten Volksmobilisierungskräfte stehen formal unter irakischem Oberbefehl, werden aber faktisch von Teheran dirigiert. Sie haben eigene Kasernen, werden nach amerikanischen Erkenntnissen vom Iran mit Raketen aufgerüstet und formen einen immer mächtigeren Staat im Staate.

Zum zweiten werden die Unruhen befeuert durch die ungehemmte Korruption der politischen Klasse, die hohe Arbeitslosigkeit sowie das weitflächige Staatsversagen bei der Versorgung mit Strom, Wasser, Wohnungen, Schulen und Krankenhäusern. „Wir fordern Jobs und einen besseren öffentlichen Dienst – das fordern wir seit Jahren und die Regierung tut einfach nichts“, sagte einer der Demonstranten der BBC. Andere erklärten, sie fühlten sich wie Fremde im eigenen Land. Nach Informationen des früheren sunnitischen Abgeordneten Hamid Al-Mutlaq wurde zum Beispiel der gesamte Etat des Jahres 2019 für den Bau von Krankenhäusern veruntreut. Der zuständige Gesundheitsminister Ala Al-Alwan warf daraufhin die Brocken hin und erklärte, er werde so extrem unter Druck gesetzt und bedroht, dass er sei Amt nicht weiter ausüben könne.

Schleppender Wiederaufbau

Kein Wunder, dass weite Teile der Bevölkerung jedes Vertrauen in die staatliche Elite verloren haben, der sie die Lösung der Probleme nicht mehr zutrauen. „Wir wollen keine politischen Parteien, wir wollen nichts von denen. Gebt uns einfach ein Land, wir wollen nur ein Land, in dem es sich leben lässt“, zitierte die „New York Times“ einen der jungen Aufständischen. Auch der Wiederaufbau der vom „Islamischen Staat“ zerstörten Städte und Dörfer kommt nur schleppend voran.

Immer noch müssen 1,5 Millionen Iraker in Containerlagern ausharren. Für den seit einem Jahr amtierenden Ministerpräsidenten Adil Abdel Mahdi ist die chaotische Revolte die bisher größte Herausforderung. Der 77-Jährige war angetreten mit dem Versprechen, sich von keinem politischen Lager vereinnahmen zu lassen, die Korruption auszurotten und die Nation wieder zu einen, kann sich aber gegen die mächtigen Mafia-Interessen nicht durchsetzen. „Die verletzten Demonstranten und Sicherheitskräfte, alles Söhne unseres Landes, machen mich traurig“, schrieb er auf Facebook, „genauso wie die Zerstörung und Plünderung von öffentlichem und privatem Eigentum“.