Das live über Twitter übertragene Fluchtdrama bewegte den halben Globus. Mit Möbeln hatte die 18-jährige Rahaf al-Qunun die Tür ihres Hotelzimmers in Bangkok verbarrikadiert, während sie per Handykamera verzweifelt um Asyl vor ihrer gewalttätigen Familie in Saudi-Arabien flehte. Sie sei daheim häufig geschlagen worden und solle gegen ihren Willen verheiratet werden, klagte die Ausreißerin, die nach einer Odyssee um die halbe Welt schließlich von Kanada Schutz vor der Willkür ihres Vaters und ihrer Brüder bekam.

Solches saudisches Familienelend auf offener Bühne möchte Kronprinz Mohammed bin Salman in Zukunft verhindern. Erstmals schränkt MbS, wie ihn seine Untertanen nennen, jetzt die häusliche Allmacht der Männer ein und lockert das strikte Vormundschaftsrecht.

Wie saudische Zeitungen am Freitag berichteten, dürfen Frauen über 21 künftig ohne Einwilligung ihres Ehemanns oder ihrer männlichen Verwandten einen Pass beantragen und außer Landes reisen. Der Entscheidung im Königshaus waren intensive Diskussionen vorausgegangen, wie sich das Ganze möglichst schnell umsetzen lasse, ohne in der zutiefst patriarchalischen Gesellschaft Empörung zu entfachen. Mit dieser spektakulären Reform versucht der Thronfolger, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Zum einen könnten so die verstörenden Hilferuf-Videos junger Frauen wie Rahaf al-Qunun aus dem Netz verschwinden.

Zum anderen ließe sich das Prestige Mohammed bin Salmans als mutiger Reformer neu aufpolieren. Auf mindestens 800 Fälle pro Jahr schätzt das UN-Flüchtlingskommissariat UNHCR derzeit die Zahl flüchtender saudischer Frauen, seit 2012 eine Steigerung um das Dreifache. Für Dana Ahmed, Saudi-Arabien-Spezialistin bei Amnesty International, ist dies ein Indikator für die Situation der weiblichen Bevölkerung im Königreich. Die Frauen seien trotz gewisser Reformen immer noch unzureichend geschützt gegen häusliche Gewalt und Missbrauch.

Denn abgesehen von der neuen Reisefreiheit bleiben alle anderen männlichen Vorrechte unangetastet. Frauen dürfen auch weiterhin nicht gegen den Willen ihres heimischen Gebieters heiraten, studieren, arbeiten oder eine Wohnung mieten. Selbst das Gefängnis dürfen Frauen nach einer Haftzeit nicht ohne männliche Zustimmung verlassen. Verweigert der männliche Vormund die Rückkehr nach Hause, müssen Frauen hinter Gitter bleiben. Auch die bisher spektakulärste Reform, als das Königshaus im Juni 2018 der weiblichen Bevölkerung das Autofahren erlaubte, war begleitet von einer Verhaftungswelle gegen prominente Frauenrechtlerinnen. Ihnen wird wegen Spionage und „verdächtiger Kontakte zu ausländischen Organen“ der Prozess gemacht. Alle Betroffenen, die seit mehr als einem Jahr im Gefängnis sitzen, beschuldigen das männliche Verhörpersonal, sie gequält, gefoltert und sexuell belästigt zu haben. Die bekannte Aktivistin Loujain al-Hathloul, die kürzlich ihren 30. Geburtstag in der Zelle erlebte, entwickelte ein unkontrollierbares Zittern am ganzen Körper.

Reisefreiheit per Dekret

Die jetzt dekretierte Reisefreiheit für Frauen will der Thronfolger daher nutzen, sein ramponiertes Ansehen im Ausland zu heben, zumal der alte König Salman immer gebrechlicher wird. Einst als mutiger Reformer und charismatischer Visionär gefeiert, ist die Euphorie mittlerweile tiefer Ernüchterung gewichen.

Und seit dem Mord an dem Journalisten Jamal Khashoggi ist die Sympathie für den saudischen Kronprinzen offener Ablehnung gewichen. Am 2. Oktober jährt sich die bestialische Bluttat in dem Konsulat von Istanbul, die jüngst auch die UN-Berichterstatterin für Menschenrechte, Agnes Callamard, dem Thronfolger persönlich anlastete.

Mit der Lockerung des Vormundschaftsrechts, so lautet offenbar das Kalkül am Königshof, lässt sich den negativen Schlagzeilen endlich wieder etwas Positives entgegensetzen. Sarah Leah Whitson jedenfalls, Nahost-Direktorin von Human Rights Watch, nannte das Vorhaben bereits „eine wirklich große Sache“. Die Zeitung „Saudi-Gazette“ sprach von einem „gigantischen Sprung für die saudischen Frauen“.