Große, tief gehende Reportagen mit viel Emotion und Hintergrundwissen, dafür war der Spiegel-Reporter Claas Relotius bekannt. Doch nach internen Recherchen sind bei seiner letzten Reportage erste Zweifel aufgetaucht. Nach und nach wurde klar, dass Relotius in zumindest 14 von rund 60 Reportagen Protagonisten nie getroffen hat, ganze Passagen, Dialoge und Zitate erfunden haben soll. Der Spiegel selbst hat den Skandal und seine Aufarbeitung öffentlich gemacht.

Das ist die vielleicht schwerste publizistische Krise beim "Spiegel"", erklärte die neue Chefredaktion um Steffen Klusmann am Mittwoch in Hamburg. "Es sind alle erschüttert. Das trifft ins Mark", sagte Geschäftsführer Thomas Hass. Die "Spiegel"-Leitung will eine Kommission aus internen und externen Experten einsetzen, um den Fälschungen nachzugehen.

"In die öffentliche Fake-News-Debatte werden wir jetzt eingeordnet werden. Dem müssen wir uns stellen", sagte der stellvertretende Chefredakteur Dirk Kurbjuweit. Im Foyer des "Spiegel"-Hauses ist das Motto des "Spiegel"-Gründers Rudolf Augstein für alle Journalisten-Generationen verewigt: "Sagen, was ist."

Der dem Gesellschaftsressort zugeordnete Reporter Claas Relotius hat die Vorwürfe nach Angaben der "Spiegel"-Führung eingeräumt. Er habe sein Büro am Sonntag ausgeräumt und seinen Vertrag am Montag gekündigt. Der Journalist schrieb erst als freier Mitarbeiter für den "Spiegel", seit eineinhalb Jahren war er als Redakteur fest angestellt. Von ihm sind dem "Spiegel" zufolge seit 2011 knapp 60 Texte im Heft und bei Spiegel Online erschienen.

Aufgedeckt worden sei der Fall nach internen Hinweisen und eigenen Recherchen, erläuterte Ullrich Fichtner, ebenfalls Mitglied der neuen Chefredaktion. "Wenn er in der Recherche nicht weitergekommen ist, hat seine Fantasie eingesetzt", berichtete Fichtner über den Reporter. "Nachträglich war es für uns schwer, in den Texten nachzuvollziehen, was Wahrheit ist, was Lüge. Der Kollege hat das ganz schön schlau gemacht. Unklar ist, ob es überhaupt "Spiegel"-Geschichten von ihm gibt, die völlig sauber sind."

Der neue Chefredakteur Klusmann sagte: "Alle Verantwortlichen für die Zusammenarbeit mit dem Autor sind bereit, zu dieser Verantwortung zu stehen." Erste Verdachtsmomente hatte es laut "Spiegel" nach einem im November 2018 veröffentlichten Text gegeben.

Der Journalist habe in mehreren Fällen eingeräumt, Geschichten erfunden oder Fakten verzerrt zu haben. Auch sei er Protagonisten, die er in seinen Storys zitiert habe, nicht begegnet. Ein Reporterkollege, der zuletzt eine Geschichte zusammen mit dem Redakteur recherchiert habe, sei misstrauisch geworden und habe Bedenken geäußert. Ihm sei es gelungen, Material gegen den Kollegen zu sammeln.

Vor seiner Zeit beim "Spiegel" hatte der Journalist für mehrere andere Medien gearbeitet und einige Auszeichnungen erhalten. Er erhielt vier Deutsche Reporterpreise, den Peter Scholl-Latour-Preis, den Konrad-Duden-, den Kindernothilfe-, den Katholischen und den Coburger Medienpreis.

"Journalist of the Year"

Den österreichischen Zeitschriftenpreis für Jungjournalisten erhielt Relotius für eine "profil"-Geschichte. Der US-Sender CNN machte ihn zum "Journalist of the Year", geehrt wurde er auch mit dem Reemtsma Liberty Award, dem European Press Prize und er landete auf der Forbes-Liste der "30 under 30 - Europe:Media".

Der Deutsche Reporterpreis teilte mit: "Wir sind entsetzt und wütend über die geradezu kriminelle Energie", mit der der ehemalige "Spiegel"-Redakteur die Organisatoren des Preises sowie die Juroren, die ihm diese Auszeichnung verliehen hätten, getäuscht habe. Die Jury berate nun über eine Aberkennung.

Die Ulrich-Wickert-Stiftung entzog dem Ex-"Spiegel"-Autor am Mittwoch den Peter-Scholl-Latour-Preis. "Ich bin tief erschüttert über diesen Betrug", teilte der frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert mit. "Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Gut eines Journalisten."

Die Ergebnisse der internen "Spiegel"-Kommission, mit denen erst in einigen Monaten gerechnet wird, sollen öffentlich dokumentiert werden, "um die Vorgänge aufzuklären und um Wiederholungsfälle zu vermeiden", wie es auf Spiegel Online heißt.

"Wir werden prüfen, inwiefern hier das Verifikationssystem nicht funktioniert hat", sagte Klusmann. Beim "Spiegel" werden die Texte von der Ressortleitung und vor allem der Dokumentation auf Fakten gegengecheckt. Der neue Chefredakteur warnte davor, alle "Spiegel"-Mitarbeiter unter einen Generalverdacht zu stellen: "Wir müssen Urvertrauen in die Integrität unserer Mitarbeiter haben. Das ist in diesem Fall verletzt worden."

Der Deutsche Journalisten-Verband (DJV) reagierte mit Betroffenheit auf den Betrugsfall. "Der vermeintliche Reporter hat nicht nur dem "Spiegel" großen Schaden zugefügt, sondern die Glaubwürdigkeit des Journalismus in den Dreck gezogen", sagte DJV-Vorsitzender Frank Überall laut Mitteilung. Dem Journalisten habe offensichtlich jegliches Verantwortungsgefühl für sein Blatt und die Leser gefehlt.

"Größter Betrugsskandal seit Hitlertagebüchern"

Die Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union (dju) twitterte: "Das dürfte der größte Betrugsskandal im Journalismus seit den Hitlertagebüchern sein." Der medienpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Thomas Hacker, erklärte, der Fall zeige bedauerlicherweise, wie anfällig Journalismus für Fake Storys und News sein könne.

Wie der Spiegel in seiner Aufarbeitung schreibt, hat Relotius vor drei Wochen noch den Deutschen Reporterpreis 2018 erhalten. Kurz davor hat der Reporter jedoch eine Mail erhalten, die maßgeblich zum Auffliegen des Skandals beigetragen hat: Seine letzte Reportage handelte unter anderem von einer Bürgerwehr in Arizona, die entlang des mexikanischen Grenzstreifens im Einsatz ist. Die Absenderin der Mail entpuppte sich als Pressesprecherin der Gruppe, deren Protagonisten in der Reportage zwar vorkamen, aber Relotius selbst war gar nie vor Ort.

In der Zwischenzeit ist auch der Co-Autor der Geschichte, Juan Moreno, Claas Relotius auf der Spur. Seine Recherchen gegen Relotius muss er jedoch, wie der Spiegel in seiner Aufarbeitung zugibt, auf eigene Faust machen, denn zu Beginn glaubt ihm die Redaktion offenbar nicht, wie das Magazin selbst schreibt: "Es wird im SPIEGEL noch Ende November, Anfang Dezember für möglich gehalten, dass Moreno in diesem Spiel der eigentliche Halunke ist und Relotius das Opfer einer üblen Verleumdung." Die Wahrheit kommt final ans Licht, als Relotius dem Druck nicht mehr standhält und seinen Betrug gegenüber der Spiegel-Redaktion zugibt.

Der Spiegel hat eine umfangreiche Aufklärung angekündigt, auch, weil Relotius für mehrere deutsche Zeitungen und Magazin, darunter "Cicero", "taz", "SZ Magazin" und "Frankfurter Allgemeine Zeitung" geschrieben hat.