"Ich denke, das Austrittsabkommen ist tot." Diese Einschätzung vertritt der britische Politik-Analyst und frühere langjährige Präsident des Meinungsforschungsinstitutes YouGov, Peter Kellner. Er rechnet damit, dass es letztlich nächstes Jahr zu einem zweiten Referendum in Großbritannien kommen wird, das zugunsten eines Verbleibs in der EU ausgeht.

Der von der britischen Premierministerin Theresa May mit der Europäischen Union ausverhandelte Deal sei "sowohl im Parlament als auch in der Öffentlichkeit unbeliebt", sagt Kellner. Das Austrittsabkommen stelle weder das Pro-Brexit- noch das Pro-EU-Lager zufrieden. "Das ist ein Kompromiss, über den Leute auf beiden Seiten unglücklich sind." In Umfragen gäben für gewöhnlich zwischen 60 und 65 Prozent der Befragten an, das Abkommen nicht zu mögen, und nur 20 bis 25 Prozent unterstützten es.

Das Unterhaus müsse bis zum 21. Jänner abstimmen. "Irgendwann in den ersten drei Wochen des neuen Jahres wird das Parlament das Austrittsabkommen sterben lassen", erwartet Kellner. "Und was dann?" Dann könnte es zu einem "No-Deal-Brexit" kommen. "Und mit Ausnahme einer Handvoll Brexiteers weiß jeder, dass das katastrophal für die Wirtschaft wäre." In Kent würden sich die Lastwagen stapeln, Investitionen würden zum Stillstand kommen, "es wäre furchtbar". Das Parlament werde deshalb nicht zulassen, dass es soweit komme.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat erst am Montag entschieden, dass Großbritannien den für Ende März 2019 geplanten Brexit einseitig und ohne Zustimmung der übrigen EU-Länder stoppen könnte. "Wenn wir im März in einer völlig verfahrenen Lage sind, kann die Regierung einfach zur EU sagen, wir möchten den Austrittsbrief zurückziehen und in der EU bleiben - zumindest bis auf weiteres", betont Kellner. Damit wären das Austrittsabkommen und der "No-Deal-Brexit" erst einmal vom Tisch.

Norwegen plus

Eine Alternative, die diskutiert werde, sei dann "Norwegen" oder "Norwegen plus": "Damit wären wir am Rande der EU, kein Mitglied der EU, wie wären im Binnenmarkt und auch in der Zollunion, was das irische Grenzproblem lösen würde, und die Industrie wäre sehr glücklich damit." Doch berge diese Option auch eine Reihe großer Probleme: "Erstens müssten wir wie Norwegen Geld zahlen, zweitens müssten wir uns an die derzeitigen und künftigen EU-Regeln halten und könnten darüber nicht mitbestimmen. Wir hätten also weniger Kontrolle über unser Schicksal als wir jetzt als EU-Mitglied haben. Drittens müssten wir die Personenfreizügigkeit beibehalten", wobei die britische Selbstbestimmung in der Migrationsfrage eines der großen Themen in der Austrittskampagne gewesen sei.

"Lächerlich"

Austrittsgegner fänden das "Norwegen plus"-Modell daher "lächerlich" und sagten, "wenn wir in der Zollunion und im Binnenmarkt bleiben und EU-Regeln gelten, wäre es viel besser, gleich in der EU zu bleiben". Und richtige Brexiteers könnten es ebenfalls nicht leiden, "weil es dem Vereinigten Königreich nicht die Kontrolle gibt", sagt Kellner. "Also wird Norwegen plus, mehr noch als Mays Austrittsabkommen, auf beiden Seiten abgelehnt."

Was dann noch übrig bleibe, sei, in der Europäischen Union zu bleiben. "Wir verlassen die EU wegen eines Referendums, also müsste der Mechanismus, um die EU nicht zu verlassen, ein weiteres Referendum sein", meint Kellner. "Meine Meinung ist, dass wir letzten Endes die EU nicht am 29. März verlassen werden und wahrscheinlich im Sommer oder Frühherbst ein Referendum haben werden."

Keine Mehrheit für Referendum

Wobei er nicht sage, dass es in Großbritannien eine sehr große Mehrheit für ein Referendum gebe: "Die gibt es noch nicht, und auch in Westminster gibt es noch keine Mehrheit dafür. Mein Argument ist vielmehr, dass alle anderen Optionen unzufriedenstellend sind, und die einzige vernünftige Option, die noch übrig bleibt, ein Referendum und ein Verbleib in der EU ist." Es werde also dazu kommen, weil es "die am wenigsten schlechte Option" sei, die es noch gebe.

May könnte argumentieren, dass das Parlament nicht in der Lage gewesen sei, eine Lösung herbeizuführen und deshalb das Volk entscheiden müsse, ob man in der EU bleiben oder den bestmöglichen Brexit, also das Austrittsabkommen, verwirklichen solle. Entsprechend wäre dies aus seiner Sicht auch die wahrscheinlichste Fragevariante bei einem erneuten Votum.

Pro-EU-Lager würde siegen

Kellner ist "ziemlich überzeugt", dass das Pro-EU-Lager ein zweites Referendum gewinnen würde. "Niemand kann ganz sicher sein." Für ihn sind jedoch mehrere Gründe ausschlaggebend. "Beim Referendum 2016 war der Austritt undefiniert, jeder Pro-Brexit-Wähler konnte seine eigene Idealvorstellung, wie das Leben außerhalb der EU sein würde, darauf projizieren. Jetzt gibt es dagegen einen sehr präzisen Vorschlag, den viele Brexit-Unterstützer nicht mögen." Ein anderer Grund sei die Bevölkerungsentwicklung: "Jedes Jahr sterben in Großbritannien rund 600.000 Menschen, und wir wissen, dass ältere Wähler im Verhältnis 2:1 für den Brexit gestimmt haben. Jedes Jahr erreichen rund 700.000 Teenager das Wahlalter, und wir wissen, dass eine große Mehrheit von ihnen in der EU bleiben wollte."

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Seine gesamten Ersparnisse würde er darauf nicht verwetten, fasst Kellner zusammen. "Aber glaube ich, dass es höchst wahrscheinlich ist, dass wir in einem weiteren Referendum dafür stimmen würden, in der EU zu bleiben? Ja, das tue ich."