"Lernen S’ Geschichte, Herr Reporter“ ermahnte Bruno Kreisky einen Journalisten, der in der Meinung des Kanzlers eine falsche historische Analogie zog, um die Politik seiner Regierung zu kritisieren. Das Echo auf die Aussage war damals durchweg negativ, doch der Leitsatz hat bis heute Relevanz: Das Studium der Geschichte hilft nach wie vor, Entwicklungen besser einzuordnen. So ist das auch im Fall der USA – das Land, das in den Augen vieler Europäer keine eigene Geschichte besitzt.
Auch bei Donald Trump und seiner von Ressentiments und Pluto-Populismus gekennzeichneten bundesregierungsfeindlichen Politik, die die gesamte globale Ordnung ins Chaos zu stürzen droht, ist ein Blick in die US-Geschichte hilfreich, um besser die Agenda des Präsidenten und seiner Unterstützer zu verstehen. Eines scheint sicher: Trump sieht die außenpolitische Bühne primär als Plattform, die US-amerikanische Bundesregierung und deren Institutionen (also auch die Geheimdienste) zu kritisieren und zu diskreditieren.

Dieser Kampf gegen die Bundeshauptstadt mit ihren Behörden hat eine lange historische Tradition in den USA. Auch die tiefen ideologischen und wirtschaftlichen Gräben, die laut vielen Kommentatoren die US-Gesellschaft seit den späten 80er-Jahren teilten und den Aufstieg Trumps ermöglichten, sind viel älter. Seit der Gründung 1776 waren die Vereinigten Staaten ein Land im Konflikt mit sich selbst – beginnend mit einer Revolution, in der Amerikaner auf beiden Seiten kämpften. Diese Auseinandersetzung zeigte ihre schlimmsten Auswüchse in der Urkatastrophe der amerikanischen Geschichte: der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865, der über 620.000 Menschen das Leben kostete und große Teile des Landes verwüstete.

Nicht aufgearbeitetes Erbe

Trumps Politik ist in vielerlei Hinsicht die Konsequenz eines nicht aufgearbeiteten Erbes des Krieges zwischen den Nord- und Südstaaten. Der Kampf wurde ausgefochten zwischen jenen Kräften der Gesellschaft, die Industrialisierung, Zentralisierung, Globalisierung sowie Gleichberechtigung zwischen den Rassen forcieren wollten – und jene, die für Dezentralisierung, Protektionismus und eine De-facto-Rassendiskriminierung eintraten. Obwohl Trump das Amt des Präsidenten der Vereinigten Staaten innehat, vertreten seine Unterstützer noch in vielerlei Hinsicht das Erbe der Konföderierten Staaten (Südstaaten) von Amerika.

Warum dieser Krieg nie wirklich aufgearbeitet wurde, ist einfach erklärt: Der Bürgerkrieg ist einer der wenigen Konflikte, deren Geschichte nicht von den Siegern, sondern von den Besiegten geschrieben wurde. Um die nationale Einheit nach dem Krieg zu fördern, überließ die Bundesregierung in Washington die Deutungshoheit dieser schlimmsten militärischen Auseinandersetzung in der amerikanischen Geschichte den Unterlegenen. Das Resultat war die Geburt des Mythos der „verlorenen Sache“ der Konföderation, die indirekt die Trump’sche bundesregierungsfeindliche Politik beeinflusst. Der Mythos liefert den ideologischen Rahmen für die weiße Vormachtstellung in der Gesellschaft sowie für den Widerstand gegen Washington und dessen Eliten und Politik.

Mythos der "verlorenen Sache"

Der Mythos der „verlorenen Sache“ entstand bereits kurz nach dem Krieg und besagt, dass nicht etwa die Sklaverei in den Südstaaten der Hauptgrund des Konflikts war (ein heute unbestrittenes Faktum), sondern die illegitime Machtausweitung der Bundesregierung gegenüber den Bundesstaaten. Sklaven, die das Fundament der ländlichen Plantagenwirtschaft des Südens darstellten, lebten nach dieser Mythologie in Harmonie mit ihren Herren. Die gerechte Sache der Konföderation wurde letztendlich nur durch die brachiale industrielle Gewalt der Yankees besiegt. Rund 20 Prozent der männlichen weißen Bevölkerung des Südens fiel im Krieg.

Bekannteste Manifestation der „verlorenen Sache“ ist für Österreicher der Film „Vom Winde verweht“. Im Vorspann des Epos redet der Erzähler vom „alten Süden“, wo sich in der Geschichte der „Edelmut zum letzten Mal verbeugte“. Ein Land bevölkert von „Rittern und ihren edlen Damen, von Herren und Sklaven“, eine harmonische Zivilisation, die wegen der nördlichen Aggression vom „Winde verweht“ wurde. Tatsächlich werden im Film Plantagenbesitzer zum Inbegriff menschlicher Tugenden stilisiert, während Yankees als mordende und vergewaltigende Invasoren dargestellt sind.

Flagge als Sinnbild persönlicher Freiheit

Es ist kein Zufall, dass der Film 1939 in die Kinos kam. Das frühe 20. Jahrhundert stellt den Höhepunkt der Verbreitung des Mythos der „verlorenen Sache“ dar. Im Süden wurde innerhalb eines Jahrzehnts nach Kriegsende durch die Jim-Crow-Gesetze die De-facto Sklaverei wieder eingeführt. Diese streng geregelte Rassentrennung wurde bis in die 1960er-Jahre durchgesetzt. Schwarze verloren das Wahlrecht. Als Zeichen der Verbundenheit wurde die Kriegsflagge der Konföderation nach und nach in fast allen Landesflaggen der ehemaligen Konföderierten Bundesstaaten aufgenommen. Die Flagge gilt für viele Trump-Anhänger noch heute als Sinnbild persönlicher Freiheit.

Erst in den vergangenen Jahren wurde am Mythos gerüttelt. Die späte Aufarbeitung hat viel damit zu tun, dass die Angst der Elite bestand, eine aufrichtige Auseinandersetzung könne den nationalen Zusammenhalt zerstören. So wurden zu Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkriegs sowie in den Nachkriegszeiten die meisten neuen Armeestützpunkte nach konföderierten Generälen benannt, um die nationale Einheit zu beschwören. Gleichzeitig wurden in den Südstaaten Statuen konföderierter Generäle errichtet. Dass Robert E. Lee ein Landesverräter war und es in der Geschichte wohl keine andere Person gibt, die für den Tod von mehr US-Soldaten verantwortlich ist, wurde unter den Tisch gekehrt.

Verrat an US-Soldaten

Auch der Kalte Krieg verhinderte eine konstruktive Debatte. Die „verlorene Sache“ zu hinterfragen, galt indirekt als Verrat an US-Soldaten und Offizieren, die sich noch immer überproportional aus den Südstaaten rekrutieren. Selbst die Kriege in Afghanistan und Irak hemmten die Diskussion. Nach 9/11 war der nationale Schulterschluss wichtiger als eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Die „verlorene Sache“ blieb ein Nährboden für bundesregierungskritische Tendenzen der ländlichen weißen Bevölkerung in den USA – der Kernwählerschicht Trumps.

Mit dem Ende der großen Kampfhandlungen in Afghanistan und Irak sowie Trumps Fokus auf die Innenpolitik, gepaart mit seiner isolationspolitischen Neigung, ist es das erste Mal seit den 1940er-Jahren, dass sich die USA keinem staatsbedrohlichen externen Feindbild bewusst sind, gegen die ein Schulterschluss nötig wäre. Die Bedrohung durch China ist zu abstrakt, der IS zu schwach. Es ist kein Zufall, dass die Polarisierung der Gesellschaft inklusive offener Abneigung gegen die Bundesregierung, gepaart mit latentem und offenem Rassismus, so offensichtlich in den Vordergrund tritt: Es ist das Rückzugsgefecht der „verlorenen Sache“, die von der Mehrheit ohne Gedanken auf Einheit nun offen angegriffen wird.

„Geschichte ist nicht, was war, Geschichte ist.“

Die Kritik des Präsidenten an Washington und seinen Institutionen sowie der von den USA dominierten globalen Ordnung, mit der er seine Kernwählerschicht anspricht, ist in diesem Kontext auch als Gegenreaktion zu sehen. Trumps Unterstützer lehnen nicht so sehr die Führungsrolle der USA ab, sondern die der Bundesregierung in Washington, inklusive ihrer Institutionen wie die von Trump bewusst kritisierten Geheimdienste. Washington wird nach wie vor als Hauptfeind angesehen. Dies ist das Erbe des Bürgerkriegs und des daraus entstandenen Mythos der „verlorenen Sache“. Der in Mississippi geborene Literaturnobelpreisträger William Faulkner schrieb einst: „Geschichte ist nicht, was war, Geschichte ist.“ In diesem Sinn scheint Kreiskys Aufforderung relevanter denn je zu sein.