Im Grunde ist es nicht nur einer der schwierigsten, sondern auch undankbarsten Jobs der EU, den die Estin Kaja Kallas übernommen hat. Sie ist „Hohe Außenbeauftragte“, und schon der etwas sperrige Titel gibt Hinweise auf den komplexen Hintergrund der Funktion. Die Estin ist gewissermaßen die Außenministerin der Europäischen Union, allerdings ist sie nicht im Rat angesiedelt, wo die Regierungen der Mitgliedsländer zusammentreffen, sondern in der Kommission, also in der Behörde – und berichtet unmittelbar der Präsidentin. Als Außenbeauftragte ist sie auch automatisch Vizepräsidentin und kann auch mit einer Regel brechen: Während alle Ratstreffen der EU-Minister formal immer vom jeweiligen Vorsitzland geleitet werden (aktuell ist es Polen), ist die Außenbeauftragte immer für den Rat der Außenminister zuständig. Kallas ist damit auch Chefin des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) mit rund 4500 Mitarbeitern.
Schon der ungeliebte Vorgänger Josep Borrell scheiterte mehr als einmal daran, als „Stimme der EU“ im Ausland aufzutreten. Sei es bei einem peinlich endenden Moskau-Besuch noch vor dem Krieg oder wegen seiner Haltung im Nahost-Konflikt, die innerhalb der EU heftig kritisiert wurde – die außenpolitischen Haltungen der 27 EU-Länder können, wenn es drauf ankommt, extrem auseinanderklaffen. Ein Dilemma, vor dem auch Kallas nicht gefeit ist. Doch ihre Bestellung wurde von Anfang an hauptsächlich als klares politisches Signal an Russland gewertet. Die baltischen Länder sind ohnehin aus logischen Gründen auf hartem Kurs gegen den russischen Aggressor, Kallas steht da zweifellos an der Spitze.
Die Ukraine soll den Krieg gewinnen
Wie sehr, bekam die Welt schon am ersten Amtstag der Spitzendiplomatin zu hören. Auf dem Weg zu ihrer ersten Dienstreise, die sie demonstrativ nach Kiew führte, schrieb Kallas auf X, „Die EU will, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnt.“ Das war vielen zu dick aufgetragen für den ersten Tag im Amt. Andererseits hatte Kallas, die in ihrem Heimatland zuletzt Premierministerin war, dort bereits den Beinamen „Eiserne Lady“ gehabt, man durfte also nicht verwundert sein. Kaja Kallas weiß wohl, was sie tut. Sie stammt aus einer hochpolitischen Familie; ihr Vater Siim war ebenfalls Ministerpräsident und schließlich EU-Kommissar in Brüssel, er war Mitbegründer der liberalen „Estnischen Reformpartei“. Die Wege der Tochter führten über ein abgeschlossenes Jusstudium ins nationale Abgeordnetenhaus und schließlich ins EU-Parlament nach Brüssel und Straßburg, ehe sie schließlich 2021 zur Ministerpräsidentin ihres Heimatlandes avancierte.
Darauf baut ein Vorwurf auf, den zuletzt mehrere Diplomaten auf der Plattform „Politico“ äußerten: Kallas würde auch als Außenbeauftragte noch so agieren, als sei sie Regierungschefin. „Sie tut so, als wäre die EU bereits im Krieg mit Russland, was nicht der offiziellen Sprachregelung entspricht“, heißt es. Sie würde ohne Rücksprache in den Ländern agieren und maßgebliche Aussagen völlig überraschend treffen.
Aus 40 Milliarden wurden nur fünf
Das führt zwangsläufig zu Rückschlägen. Nach der Münchner Sicherheitskonferenz legte sie den EU-Ländern einen Vorschlag vor, wonach zusätzliche 40 Milliarden Euro in die Ukraine fließen sollten. Man war, gelinde gesagt, überrascht. Letzten Endes kamen gerade fünf Milliarden zusammen, die zum Teil ohnehin bereits vorgesehen waren. Viele Medien schrieben von „Misserfolg“. Das Gleiche gilt für ihren Washington-Besuch im Februar, als Außenminister Marc Rubio die eigens angereiste Europäerin einfach im Regen stehen ließ und ein geplantes Treffen aus „Termingründen“ kurzerhand absagte. Auch ihre Forderung, so schnell wie möglich 1,5 Millionen Artilleriegranaten an die Ukraine zu liefern, traf die EU-Länder unvorbereitet. Kallas hatte ein entsprechendes Papier am Sonntagabend unmittelbar vor Beginn eines EU-Rates am Montag ausgeschickt.
Doch Kallas ist hart im Nehmen, sie überstand 2023 auch in ihrem Heimatland einen Skandal um ihren Ehemann Arvo Hallik: Während die Ministerpräsidentin vehement als erklärte Gegnerin des Kreml auftrat, war ihr Mann offensichtlich auch noch lange nach Kriegsbeginn an Firmen beteiligt, die mit Russland gute Geschäfte machten. Sie habe das nicht gewusst, versuchte sie zu argumentieren, ihr Mann entschuldigte sich und gelobte, sich von Firmenanteilen zu trennen – was laut Medienberichten dann aber nur zum Teil der Fall war.
Zeit für Taten statt Worten
Die „Eiserne Lady“ bleibt auch auf EU-Ebene auf hartem Kurs, das ringt vielen dann doch Respekt ab. Als Außenbeauftragte ist sie unmittelbar am großen Aufrüstungsprogramm „Readiness 2030“ beteiligt, das zuerst unter martialischem Titel „ReArm Europe“ („Wiederbewaffung“) in Form eines Weißbuchs präsentiert wurde. Da sei klare Kante gefordert, sagt ein EAD-Diplomat: „Kaja Kallas wurde gewählt, weil sie eine starke Persönlichkeit für Kriegszeiten wollten: nicht, um stillschweigend zu moderieren und den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden, sondern um die Dinge voranzutreiben.“ Es sei jetzt Zeit für Taten, nicht nur für Worte.