Ekrem İmamoğlu zupft Krawatte und Hemd zurecht und schaut in die Kamera. „Vor der Tür stehen hunderte Polizisten“, sagt der Istanbuler Bürgermeister in einem Video, das er am Mittwoch im Morgengrauen im Ankleidezimmer seines Hauses im europäischen Teil der türkischen Metropole aufnimmt. Der 53-Jährige lädt den Clip in den sozialen Medien hoch, während die Polizisten draußen auf ihn warten, um ihn festzunehmen: Präsident Recep Tayyip Erdoğan will seinen chancenreichsten Herausforderer aus dem Verkehr ziehen. Damit überschreitet die Türkei eine Grenze.
Der von Erdoğan eingesetzte Gouverneur von Istanbul verbietet alle Kundgebungen in der 16-Millionen-Stadt für vier Tage und lässt die U-Bahnstation am zentralen Taksim-Platz sperren, um Proteste gegen die Festnahme des Bürgermeisters zu verhindern. Polizeifahrzeuge blockieren eine Hauptverkehrsstraße in der Nähe des zentralen Istanbuler Polizeipräsidiums, in dem İmamoğlu am Vormittag verhört wird. Die Polizei sei überall, raunen sich Passanten in der Istanbuler Innenstadt zu. Die Kurse an der Istanbuler Börse fallen so drastisch, dass der Handel ausgesetzt wird.
Putsch-Atmosphäre liegt in der Luft, auch wenn es diesmal die Regierung ist, die ihre Gegner festsetzen lässt. „Wir gingen gestern als Türkei schlafen und wachten heute als Russland auf“, sagt der Politologe und Zeitungskommentator Yildiray Ogur zur Kleinen Zeitung.
100 weitere Festnahmen
Mit İmamoğlu werden rund hundert weitere Oppositionspolitiker, Berater und regierungskritische Journalisten festgenommen. Die Istanbuler Staatsanwaltschaft wirft İmamoğlu vor, er habe mit der kurdischen Terrororganisation PKK zusammengearbeitet, um sich bei den Kommunalwahlen im vorigen Jahr die Wiederwahl zu sichern. Außerdem habe sich İmamoğlu als „Chef einer profitorientierten kriminellen Organisation“ mit Korruption, Schutzgelderpressungen und der Manipulation von Ausschreibungen bereichert. Regierungstreue Medien strahlen Videos aus, die Politiker von İmamoğlus Partei CHP beim Geldzählen zeigen sollen.
Bei einer Verurteilung drohen İmamoğlu, der Istanbul seit sechs Jahren regiert, eine jahrelange Haftstrafe und ein politisches Betätigungsverbot. Schon in den nächsten Tagen könnte er abgesetzt und durch einen Zwangsverwalter der Erdoğan -Regierung ersetzt werden. Er werde weiterkämpfen, kündigt İmamoğlu in seiner Videobotschaft vor seiner Festnahme an.
Türkische Regierungsgegner kritisieren seit Jahren den zunehmend autokratischen Kurs der Erdoğan-Regierung. Der 71-Jährige will sich bei der nächsten Wahl, die in spätestens zweieinhalb Jahren stattfinden muss, wiederwählen lassen, doch in den Umfragen liegt er hinter İmamoğlu. Jetzt habe Erdoğan die Endphase eines „Putsches von oben“ eingeleitet, sagte der Politologe Murat Somer von der Istanbuler Özyegin-Universität: Der Begriff „Putsch von oben“ oder „Auto-Coup“ beschreibt den Coup einer gewählten Regierung gegen Institutionen oder Gegner, um sich illegal an der Macht zu halten.
Absurde Vorwürfe
Die Vorwürfe der regierungstreuen Justiz gegen İmamoğlu sind teils alt, teils absurd, doch der Zeitpunkt der Festnahme ist sorgfältig gewählt. Am kommenden Sonntag will die CHP in einer Mitgliederbefragung ihren Präsidentschaftskandidaten küren. İmamoğlu ist der große Favorit: Als gewählter Kandidat der größten Oppositionspartei hätte er ein landesweites Mandat, um Erdoğan herauszufordern. Das will die Regierung verhindern und zieht dabei alle Register. Am Abend vor İmamoğlus Festnahme entzogen die Behörden dem Bürgermeister seinen Hochschulabschluss, der für eine Anmeldung als Präsidentschaftskandidat notwendig ist. CHP-Chef Özgür Özel erklärte am Mittwoch, seine Partei halte an der Abstimmung fest und verglich Erdoğan mit General Kenan Evren, den Anführer des Militärputsches von 1980.
Erdogan riskiert Kritik der EU
Erdoğan geht mit İmamoğlus Festnahme ein Risiko ein. Außenpolitisch gefährdet er seine Annäherung an die EU, die er für eine Erholung der türkischen Wirtschaft braucht. Der Präsident wirbt seit Wochen für engere politische und militärische Beziehungen zwischen der Türkei und Europa und traf wegen der Entfremdung zwischen der EU und den USA damit einen Nerv. Nun dürfte in Europa der Widerstand gegen eine allzu enge Zusammenarbeit mit Ankara wachsen. Die EU mache sich zu Erdoğans Komplizin, wenn sie nach İmamoğlu Festnahme nicht schnell und entschlossen handle, sagt der Politologe Somer.
Noch größer ist das innenpolitische Risiko. Dass İmamoğlu mit der Festnahme politisch erledigt werden kann, steht nicht fest. Der Istanbuler Bürgermeister könnte nun erst recht zum „politischen Star“ werden, meint der Türkei-Experte Soner Cagaptay vom Washington-Institut für Nahost-Studien. Ende der 1990er Jahre ließen die türkischen Behörden schon einmal einen Istanbuler Bürgermeister mit fadenscheiniger Begründung festnehmen und ins Gefängnis stecken. Als der Politiker aus der Haft kam, war er stärker als zuvor und wenig später an der Macht. Er hieß Recep Tayyip Erdoğan.