Frieden ist ein hehres Ziel. Ganz besonders dann, wenn man den Krieg nie wollte. Vor mittlerweile mehr als eineinhalb Jahren hat Russland die Ukraine angegriffen, mit der Absicht, das Nachbarland vollumfänglich ins eigene Staatsgebiet einzuverleiben. Gelungen ist das seither nicht, auch wenn die Bemühungen da waren. Täglich sterben in der Ukraine Soldaten und Zivilisten. Die Hoffnung auf ein Ende des Grauens mischt sich in Appelle an beide Kriegsparteien, endlich die Waffen niederzulegen und den Krieg mit den nun bestehenden Grenzen zu beenden. Aber ist das wirklich eine Option?

Industrie würde in russische Hände fallen

Russland hat seit Beginn des Krieges größere Gebietsgewinne im Südosten der Ukraine verzeichnet. Am 3. Oktober 2022 stimmte das russische Parlament, die Duma, für die Annexion von Cherson, Donezk, Luhansk und Saporischschja. Sollten die Gebiete in russischer Hand bleiben, ist die Ukraine empfindlich getroffen. Der Grund: Rund ein Viertel der ukrainischen Industrieproduktion und große Teile der Energieversorgung sind hier angesiedelt.

Elisabeth Christen, Außenhandelsexpertin des Wifo
Elisabeth Christen, Außenhandelsexpertin des Wifo © Wifo

Elisabeth Christen, Außenhandelsexpertin des Wirtschaftsforschungsinstituts Wifo, betrachtet das hypothetische Szenario eines Waffenstillstands mit den derzeit vorherrschenden Frontlinien als künftige Grenzen daher kritisch. „Es ist davon auszugehen, dass die Ukraine zwar anderweitig ihre Energieversorgung bereitstellen könnte, der Verlust der wichtigen Industriegebiete würde das Land jedoch empfindlich treffen“, sagt Christen.

Ein großer Teil der ukrainischen Wirtschaftsleistung speist sich zudem aus den Exporten von Getreide, die aus den Schwarzmeerhäfen in Cherson auslaufen. Auch dieses Gebiet wäre – Stand jetzt – in russischer Hand. Nicht nur für die Ukraine wäre dies ein empfindlicher Schlag, der die Überlebensfähigkeit des Staates auf eine harte Probe stellen würde. Auch der Rest der Welt würde die Auswirkungen zu spüren bekommen.

Getreideversorgung mit großen Fragezeichen

„Wir wissen natürlich nicht, wie Russland damit umgehen würde, ob man die Getreidevorräte exportiert oder für die Versorgung der eigenen Bevölkerung verwendet. Der Markt reagiert auf diese Unsicherheiten naturgemäß sehr sensibel“, sagt Christen. Die Lebensmittelpreise würden demnach weltweit steigen. Anders als vor dem Krieg, als die Gebiete in ukrainischer Hand waren und so ein demokratischer Verhandlungspartner ein gewisses Maß an Planungssicherheit gegeben hat, wäre die russische Führung ein erhebliches Risiko für die Ernährungssicherheit.

Die derzeit besetzten Gebiete aufzugeben würde die Ukraine wirtschaftlich hart treffen. Hinzu kommt: Russland würde einen derartigen Deal ohnehin nicht akzeptieren, solange Wladimir Putin noch an der Macht ist. Der Präsident, der seine Wiederkandidatur bei den Wahlen im März 2024 bekannt gegeben hat, machte in einer Propagandashow kürzlich unmissverständlich klar, dass er sich mit dem derzeitigen Stand der Dinge nicht zufrieden zeigt.

Der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott
Der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott © privat

„Putin hat zu Beginn der Invasion drei zentrale Ziele genannt: die Entnazifizierung der Ukraine, die Entmilitarisierung und die Herstellung eines neutralen Staates“, analysiert der Politikwissenschaftler Gerhard Mangott. Hinter den Kriegszielen verbirgt sich die perfide Absicht, die Ukraine zu einem russischen Marionettenstaat umzubauen. Vorhaben, die bisher jedenfalls gescheitert sind. „Stand jetzt hat Russland kein Interesse an Verhandlungen, zumal man es bisher nicht geschafft hat, die ukrainische Regierung zu stürzen und mit prorussischen Kräften an der Spitze die Ukraine wieder zurück an den russischen Orbit anzugliedern“, sagt Mangott.

Russland gibt sich nicht zufrieden

Ein Kriegsende mit den nun von Russland mit Gewalt gezeichneten Grenzen würde zudem keinen langfristrigen Frieden bringen, vermuten Christen und Mangott. „Eine Waffenruhe bietet Russland die Gelegenheit, wieder nachzurüsten und in drei, vier oder auch erst zehn Jahren erneut anzugreifen“, sagt Mangott. Er erachte einen Waffenstillstand nur dann als sinnvoll, wenn „die Ukraine militärisch hochgerüstet wird, damit sie auch ein ausreichendes Abschreckungsmittel hat“.

Die Außenwirtschaftsexpertin Christen gibt zudem zu bedenken, welche geopolitischen Folgen ein hypothetischer (Teil-)Erfolg Russlands hätte: „Wir sehen jetzt schon, dass die Achse China-Russland stärker wird, sollte Russland die Gebiete unter vollständige Kontrolle bringen, wird dieses Bündnis weiter gestärkt.“ Die geopolitische, speziell die europäische Sicherheitspolitik wäre somit für Jahre einer ständigen Bedrohung ausgesetzt, die durch das Narrativ „des Rechts des Stärkeren“ nicht vor weiteren Konflikten zurückscheuen würde.

Die Experten sind sich einig. Ein Waffenstillstand mit den derzeitigen Grenzen in der Ukraine würde keinen Frieden bringen. Vielmehr würde er das Recht des Stärkeren über das Völkerrecht stellen und die Weltwirtschaft sowie die geopolitische Sicherheitspolitik ins Wanken bringen. Noch mehr als es der Krieg derzeit tut.