Bolivien kommt auch eine Woche nach dem Rücktritt von Präsident Evo Morales nicht zur Ruhe. Nach neuen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften stieg die Zahl der Todesopfer seit Beginn der politischen Unruhen auf 23, teilte die Interamerikanische Menschenrechtskommission (CIDH) am Wochenende mit. UNO-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet warnte vor einer Eskalation.

Die ehemalige Präsidentin Chiles prangerte zudem die "unnötige und nicht angemessene" Gewalt durch Polizei und Armee an. Die CIDH zeigte sich laut dem auf Lateinamerika spezialisierten Internet-Portal "amerika21.de" auch alarmiert über ein Dekret der aktuellen Machthaber in Bolivien. Demnach sind die Mitglieder der Sicherheitskräfte, die "an den Operationen zur Wiederherstellung der Ordnung und der öffentlichen Sicherheit teilnehmen, von strafrechtlicher Verantwortung befreit, wenn sie in Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben zur legitimen Verteidigung oder im Notfall handeln".

Verstoß gegen Menschrechte?

Zudem können sie "alle verfügbaren Mittel nutzen, die im angemessenen Verhältnis zu den Risiken des Einsatzes stehen". Das "schwerwiegende Dekret" missachte internationale Menschenrechtsstandards, befördere die gewaltsame Unterdrückung und "verstößt gegen die Verpflichtung der Staaten, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, zu verfolgen, zu verurteilen und zu bestrafen", so die CIDH.

Bei neuen Ausschreitungen am Freitag nahe Cochabamba, einer Hochburg der Morales-Anhänger, wurden nach Angaben der Interamerikanischen Menschenrechtskommission neun Menschen getötet. Auch der Ombudsmann der Stadt Cochabamba, Nelson Cox, nannte am Samstag diese Zahl. Weitere 115 Menschen seien verletzt worden, als Polizisten und Militärs am Freitag einem Marsch von Kokabauern auf einer Brücke in Sacaba, östlich der Stadt Cochabamba, den Weg versperrten.

Marsch zum Regierungssitz

Die Anhänger von Morales hatten versucht, über Cochabamba zum Regierungssitz in La Paz zu marschieren, um ihre Unterstützung für den Ex-Präsidenten zu zeigen. Cox machte die Sicherheitskräfte für den Tod der Demonstranten verantwortlich. Sie seien erschossen worden.

Der neue Innenminister Arturo Murillo erklärte dagegen, die Schüsse seien aus den Reihen der Anhänger von Morales gefallen. "Viele der Toten erlitten Nackenschüsse", sagte der Minister. Die Sicherheitskräfte hätten den Befehl gehabt, nicht auf die Demonstranten zu schießen. Die Regierung sprach von fünf Toten. Polizei und Armee hatten einen Protestmarsch tausender Kokabauern gestoppt und die Menge auseinandergetrieben. Die CIDH meldete außerdem 122 Verletzte seit Freitag.

Hilfe durch Armee

Übergangspräsidentin Jeanine Áñez hatte am Donnerstag ein Dekret erlassen, wonach die Armee die Polizei dabei unterstützen kann, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Soldaten werden laut dem Erlass vor Strafverfolgung geschützt. Die CIDH, die Teil der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) ist, kritisierte die Entscheidung scharf. Sie könne dazu führen, die "gewaltsame Repression" zu befördern. Morales sprach von einem "Freibrief für Massaker".

Auch UNO-Menschenrechtskommissarin Bachelet äußerte sich besorgt. Das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten sei "extrem gefährlich", erklärte sie am Samstag. Dies könne dazu führen, dass die Lage in dem südamerikanischen Land außer Kontrolle gerate. Sie rief die Übergangsregierung von Jeanine Áñez dazu auf, mit Augenmaß und "im Einklang mit internationalen Normen und Standards" vorzugehen.

Der langjährige Staatschef Morales war am 10. November nach wochenlangen Protesten infolge der umstrittenen Präsidentschaftswahl im Oktober zurückgetreten und anschließend nach Mexiko ins Exil gegangen. Die Anhänger des ersten indigenen Präsidenten Boliviens protestieren seither gegen dessen Entmachtung und fordern seine Rückkehr.

Morales will zurück

Morales selbst sprach in einem BBC-Interview von einem "Staatsreich" und kündigte an, er werde nach Bolivien zurückkehren, um sein Land zu "befrieden". Áñez drohte dem linksgerichteten Ex-Staatschef am Freitag in diesem Falle jedoch mit juristischen Konsequenzen. Morales müsse sich in Bolivien wegen der Unregelmäßigkeiten bei den Präsidentschaftswahlen am 20. Oktober sowie wegen "zahlreicher Korruptionsvorwürfe" vor Gericht verantworten, sagte Áñez. Indigenen-Vetreter in Bolivien wiesen indes in mehreren Stellungnahmen gegenüber Medien die Darstellung zurück, wonach es bei den Wahlen zu Manipulierungen gekommen sei. Vielmehr handle es sich um einen "Putsch" gegen den von den Indigenen unterstützten Morales,

Die UNO versucht in dem Konflikt zwischen den politischen Lagern in Bolivien zu vermitteln. Der UNO-Gesandte Jean Arnault traf sich am Samstag mit Áñez und beriet mit ihr über den politischen Übergang in Bolivien. Er forderte einen Dialog zwischen den Konfliktparteien und die Organisation "transparenter Wahlen". Arnault will an den Gesprächen zwischen Vertretern der Übergangsregierung und der Partei von Morales teilnehmen. Áñez hatte am Donnerstag Verhandlungen zwischen beiden Lagern angekündigt.