Es kann eine Drohung sein. Eine einzelne ungewollte Berührung. Oder noch viel Schlimmeres. Und das von jemanden, auf dessen Hilfe man vielleicht angewiesen ist.

Behinderte Frauen sind besonders gefährdet – sie erleben viel öfter Gewalt als Männer mit Behinderung und als Frauen ohne Behinderung. Das belegt eine Studie des Instituts für Rechts- und Kriminalsoziologie aus dem Jahr 2019. Mehr als ein Drittel der Frauen mit Behinderungen gab zum Beispiel an, schon einmal sexuelle Gewalt erlebt zu haben.

Die Übergriffe finden etwa in der Familie oder in Einrichtungen statt. „Für Täter können Frauen mit Behinderungen ein leichteres Opfer sein, sie nutzen das aus. Es geht dabei auch um Macht“, erklärt Isabell Naronnig vom Wiener Verein Ninlil. Seit acht Jahren arbeitet sie in der Peer-Beratung mit behinderten und chronisch erkrankten Frauen. „Jede, die zu uns kommt, hat irgendeine Form von Gewalt erlebt, sei es strukturelle, sexualisierte oder ökonomische. Die allermeisten kommen mit einem Riesenpackerl und man weiß nicht, wo man anfangen soll.“ Nicht selten sei psychische Gewalt das Thema, meint Naronnig. „Frauen, die in Einrichtungen leben, erzählen häufig, dass sie dort kaum etwas in Frage stellen oder Kritik äußern. Aus Angst, dass ihnen Unterstützung verwehrt wird.“

Die Dunkelziffer der Opfer ist hoch

Übergriffe werden selten zur Anzeige gebracht“, weiß Elisabeth Udl, Leiterin des Vereins Ninlil aus der Praxis. Das hat mehrere Gründe. Udl berichtet etwa von Frauen mit Lernschwierigkeiten, die sich bei der Befragung durch die Polizei oder vor Gericht nicht ernst genommen fühlen. Etwa, weil sie unter Druck bestimmte Zeitfolgen nicht genau wiedergeben können. Dabei wisse man aus der Forschung: „Zu den Folgen eines Traumas gehören Lücken in der Erinnerung, weil das Gehirn mit etwas anderem beschäftigt war – nämlich zu überleben.“

Zu wenig Frauen mit Behinderung sexuell aufgeklärt

Hinzu kommt: Nicht selten fehlt die Ausdrucksmöglichkeit, aber auch die Aufklärung in leichter Sprache im Vorfeld. Naronnig bestätigt: „Es sind so wenige Frauen mit Behinderung sexuell aufgeklärt, aber das wäre der erste wichtige Faktor in der Gewaltprävention. Wenn ich aufgeklärt bin, weiß ich früh, was meine Bedürfnisse sind, welche Rechte ich habe und wo meine Grenzen sind.“

Doch das Thema ist nicht sichtbar. Im Bereich Frauen mit Behinderung werde zu wenig geleistet, sagt Susanne Maurer-Aldrian von der Lebenshilfe. „Weil man sich entweder um Menschen mit Behinderung kümmert oder um Frauen, aber um diese Schnittstelle wirklich wenig.“ Naronnig spricht sogar von einer „doppelten Diskriminierung“, einmal aufgrund des Frauseins und einmal aufgrund der Erkrankung oder Behinderung.

Gewaltprävention beginnt mit Selbstbestimmung

(oben) Isabell Naronnig, Peer-Beratung Ninlil, (rechts) Elisabeth Udl, Gewaltschutz bei Ninlil, (unten) Susanne Maurer-Aldrian von der Lebenshilfe
(oben) Isabell Naronnig, Peer-Beratung Ninlil, (rechts) Elisabeth Udl, Gewaltschutz bei Ninlil, (unten) Susanne Maurer-Aldrian von der Lebenshilfe © KLZ/Richard Großschädl, Privat (2)

Was es braucht, ist Gleichberechtigung von Anfang an, sagt Maurer-Aldrian. „Dass man den Frauen mit Behinderung etwas zutraut, dass man sie informiert.“ Das fange bei Beratung in den Familien an, um Frauen mit Behinderung in die Selbstständigkeit zu bringen. Außerdem werden bedarfsorientierte, individuelle Angebote benötigt, sagt Naronnig von Ninlil. Konkreter: einen fairen Zugang zu persönlicher Assistenz zum Beispiel. Elisabeth Udl erklärt: „Brauche ich nachts die Hilfe meines Partners, um auf die Toilette zu kommen, ist es schwierig, sich aus diesem Abhängigkeitsverhältnis zu lösen.“ Gewaltprävention beginne für sie deshalb schon mit der Frage: Wie möchte ich leben? Und mit wem?

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