Eines der großen Menschheitssymbole ist die Unschuld. Für die Christenheit wäre Weihnachten unvorstellbar, ohne dass Maria, die Mutter Jesu, nicht – wie es heißt – „vor, während und nach der Geburt“ leiblich unversehrt geblieben wäre. Die leibliche Unversehrtheit ist, der älteren Theologie zufolge, Symbol und Realität zugleich.

Sie ist Symbol der weiblichen Unschuld, welche das universale Ereignis der Geburt des Menschensohnes mit der Unschuld der ersten Menschen vor dem Sündenfall verknüpft. Und sie ist für das Christentum eine zentrale Glaubensrealität. In ihr liegt die Erlösung der Menschheit beschlossen. Die Heilige Familie im Stall zu Bethlehem, traulich vereint mit einigen Tieren, eine Rückerinnerung an die Zutraulichkeit aller Wesen im Garten Eden; der wegweisende Stern über dem Stall, ein kosmisches Zeichen des Lichts, das dem Geschehen ein inneres Leuchten mitteilt, wonach es sich hier und jetzt und für immer um den heilsgeschichtlichen Wendepunkt handelt; und schließlich die vom Stern geleitete Ankunft der drei Könige „aus dem Morgenland“: Alle diese Requisiten der höheren Fügung sind erfüllt von einer inneren Schönheit. Diese eigentümliche Schönheit geht von einem Strahlpunkt aus, der Geburt Gottes aus dem Leib der Jungfrau.

Es ist die Aura der Unschuld, die das Mysterium umhüllt. Fällt sie weg, bleibt nur eine kindliche Erzählung, ein Märchen aus alten Tagen oder der Kitschrummel des „Krippleins“. Heute ist für viele Weihnachten zu einer sentimentalen Inszenierung geworden, die ein anstößiges Element birgt, über das am besten so wenig wie möglich geredet wird. Es handelt sich dabei um die Jungfräulichkeit Mariens als einer unabdingbaren Voraussetzung der Unschuld. Aufgeklärte Christinnen mögen darin kaum noch ein Zeichen für die Vortrefflichkeit, die Tugendhaftigkeit der Frau erblicken. Trotzdem wird Mariens Aufnahme in den Himmel bei „leiblicher Unversehrtheit“ im Jahre 1950 vom römisch-katholischen Papst als Dogma verkündet. Seither hat jede Katholikin, jeder Katholik an dieses Ereignis zu glauben, dessen hartnäckige Ableugnung gemäß Kirchenrecht, streng genommen, zur automatischen Exkommunikation führt.

Aber das Christentum, wie es sich unter einigermaßen liberalen, zeitgemäßen Umständen darstellt, hat schon längst aufgehört, etwas „streng zu nehmen“. Wie sollte Maria Jesus empfangen haben, ohne dass ihr ein Mann beigelegen, sie „erkannt“ hätte, wie es im Bibeldeutsch heißt? Und wie erst wäre es denkbar, dass sie ein Kind geboren hätte, ohne dass ihr Körper Veränderungen und, ja, Verletzungen erfahren hätte? Kurz gesagt, für die Christin – und den Mann, der ihren weiblichen Überzeugungen assistiert – ist das Dogma der Jungfrauengeburt nicht mehr als eine hässliche Nebensache, ebenso wie der Umstand, dass Maria mit „unversehrtem Leib“ bei Gott, als Fürbitterin derer, die zu ihr beten, „wohnen“ soll.

In den heute veralteten Dogmatiken, namentlich solchen vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965), wurde Mariens Unschuld, die ihre körperliche Unversehrtheit voraussetzte, als ein Geheimnis bezeichnet. Als was denn sonst? Aber es wurde doch versucht, die Schönheit dieses Mysteriums in wie auch immer spröder Begrifflichkeit zu demonstrieren. Und so wurde die Geburt Jesu mit dem Durchgang des Lichts durch die bunten Fenster gotischer Kathedralen verglichen. Solche Fenster, deren Vollkommenheit sich der inspirierten Arbeit großer Künstler verdankt (das war die Zeit, als die Kunst eine Aura hatte und die Menschheit seelisch beglücken wollte), bleiben in der Herrlichkeit ihres inneren Leuchtens unbeschädigt: Das Licht macht alle Farben und Figuren strahlen, es ist eine Vorausweisung auf das kommende Heil.

Wie oft, wie fortschrittlich und – unverblümt gesagt – wie dumm ist über die Jungfräulichkeit Mariens gespottet worden! Man kennt die Einwände des gesunden gynäkologischen Menschenverstandes, der Feministinnen und Feministen (die Männer lachen gerne am lautesten, fast wie über einen „Herrenwitz“). Und man kennt die Lehren der Psychoanalyse seit Sigmund Freud, die nicht nur die Realität des Sexus in das Zentrum der Menschheitsentwicklung rückten, sondern auch den Mythos von der Unschuld des Kindes enttarnten: Die frühkindliche Sexualität geht demnach mit mörderischen Fantasien einher. Es gibt keine Unschuld auf Erden, sehen wir von der rechtlichen Dimension ab.

Umso bemerkenswerter, dass die „Entdeckung der Kindheit“ im 19. Jahrhundert – vordem wurden die „lieben Kleinen“ eher als kleine Erwachsene behandelt – zu einer Kinderschutzatmosphäre führte, in deren Rahmen sich die Psyche verletzlich wie feinstes Porzellan ausnimmt. Der Gedanke, dass hier trotz aller Psychologie das Motiv der Unschuld weiterwirkt, nun hineinverlegt in unsere Gefühle für das Kind – dieser Gedanke darf nicht einfach abgedrängt werden. Gerade wenn wir, als moralisch fühlende Wesen, zugeben, dass wir, als Naturwesen, schon immer in einen Schuldzusammenhang verstrickt sind, in ein ewiges Fressen- und Gefressenwerden, in vielerlei Laster, Grausamkeiten, absichtliche und unabsichtliche Akte der Zerstörung, sollte uns das Ideal einer ursprünglichen Unschuld leuchten wie der Stern über dem Stall.

Moral ist wichtig, aber zu wenig. Das Weihnachtsfest, recht verstanden, hat einen geheimnisvollen Ursprung in der Seele des Menschen. Der Sinn des Lebens gründet in einer höheren Realität, dem Versprechen einer Beheimatung. Zwar sind wir hier, wie Mythos, Poesie und Volksglaube zu allen Zeiten wussten, Fremde. Aber es gibt die archetypische Menschheitserinnerung, die zugleich einen Heilspunkt in der Zukunft markiert: die Wiedergewinnung der Unschuld nach all den Verwüstungen durch die ererbte Bösartigkeit unseres Geschlechts.

© Michaela Vretscher