Ich war nie ein Waldbauernbub. Trotzdem sehen die Weihnachten meiner Kindheit in der Erinnerung den Bildern aus Peter Roseggers „Als ich noch der Waldbauernbub war“ verdächtig ähnlich. Genauer gesagt: Den Bildern aus der dazugehörigen Fernsehserie – schließlich konnte ich in jenen Weihnachtsferien, von denen hier die Rede ist, noch nicht lesen. Dafür aber wurde die Serie „Aus der Waldheimat“ damals zum ersten Mal ausgestrahlt. Gut möglich also, dass so manches Element der folgenden Weihnachtsgeschichte gar nicht wirklich passiert, sondern aus dem Feiertagsfernsehprogramm in mein Kindergehirn hinübergeflackert ist …
Andererseits: „Viel Schnee“ lag damals jedenfalls in beiden Realitäten, Bauernhäuser kauerten da wie dort an steilen, dicht bewaldeten Hängen, und auch dass man den Buben, der ich damals war – eben ganz genauso wie den Waldbauernbuben in Roseggers „Als ich Christtagsfreuden“ holen ging –, am 24. Dezember mit einem wichtigen Auftrag in den Winterwald hinausschickte, ist Tatsache.
Aber der Reihe nach.

Das Wunder

Als ich noch kein Waldbauernbub war, scheute meine Familie weder treats noch tricks, um mir den Glauben ans Christkind zu bewahren. Diesem schrieb ich Anfang Dezember einen Brief, dann tat sich lange gar nichts, dennoch erstrahlte am Heiligen Abend, kaum dass das Glöckchen geläutet hatte, im Esszimmer ein imposanter Christbaum – umringt von ebenso schatten- wie sagenhaften Geschenken.

Es war wirklich ein Wunder. Keine hektischen Hamsterkäufe, kein Herumhantieren mit einem übergroßen, stacheligen Stück Forst, kein „Stress durch ,Wir schenken uns heuer nichts‘-Geschenke“ … Nein, all die Plackerei, die bestimmt auch schon damals, als man noch fest daran glaubte, citoyen zu sein und nicht bloß consumer, zu Weihnachten anfiel, erledigte bei uns das Christkind.

Freilich: Es hätte mich misstrauisch stimmen können, dass besagtes Esszimmer in den Vorweihnachtstagen stets abgesperrt war. Und dass alle anderen Familienmitglieder dennoch, zunehmend abgekämpft, dort ein- und aushuschten und nur ich allein keinen Schlüssel besaß. Aber: Ich war kein argwöhnisches Kind. Im Gegenteil. Niemand hätte von mir behaupten können, dass ich einer sei, der den Realismus der Magie vorzog … Fakt ist: Ich schöpfte nie Verdacht. Ich habe mich immer auf die Ehrlichkeit meiner Nächsten verlassen.

Weihnachten verbrachten wir im Haus der Großeltern, in der Weststeiermark, an der Ostseite des Reinischkogels. Von den Balkonen und Fenstern des Hauses aus sah man an klaren Tagen über Hunderte Hügel, Graz und die Riegersburg hinweg bis nach Ungarn.
Am spektakulärsten war jedoch, jedenfalls im Advent, die Aussicht bei Nacht. Kaum ging die Sonne unter, erstrahlten in den Nachbargärten mehrere mit elektrischen Lichterketten beleuchtete Christbäumchen. Diese schienen mir Wunderwerke der Technik. Jedenfalls staunte ich bei ihrem Anblick nicht schlecht – kaum schlechter etwa als neulich, als mein Schwager sein Küchenregal mit einem weiblichen Vornamen ansprach und dieses daraufhin tatsächlich antwortete.

Der Auftrag

Aber so weit sind wir noch nicht. Noch ist es früh, früher Nachmittag an einem 24. 12. Anfang der 80er, und ich lasse die Tür zum Esszimmer nicht mehr aus den Augen. Nun kann es nicht mehr lange dauern, bis das Christkind kommt! Und wirklich: Schon erzittert der Boden, nähern sich Schritte – ach, es ist nur der Großvater, der mich von meinem Wachtposten holt. Warum? Nun, es ist wie verhext – und jedes Jahr dasselbe. Just jetzt, da das Christkind endlich tatsächlich vor der Tür steht, müssen wir beide los, um einen unaufschiebbaren Auftrag auszuführen!

Freilich: So viel nicht-altersgerechte Verantwortung wie dem Waldbauernbuben, der im Morgengrauen hinausgeschickt wird, um in einem Ganztagsgewaltmarsch Schulden einzutreiben und die Zutaten für das Festmahl der ganzen Familie zu besorgen, lud man mir nicht auf die Schultern. Und doch: „Peter“, nein: „Andreas“, sagte mein Großvater, „jetzt höre, was ich dir sage. Wir nehmen deinen Schlitten, denn es ist viel Schnee. Da haben wir eine Flasche Schilcher, die bringen wir dem Onkel und der Tante in ihrem Knusperhäuschen, sie werden sich daran laben.“

Im Lebkuchenhaus

Das war alles gut und recht. Den Schlitten nahm ich in die rechte Hand, die rechte Hand des Großvaters in die linke. Und so stapften wir davon, fort von dem Haus, wo jeden Augenblick das Christkind landen konnte – so, wie wir in jener Zeit des Jahres alle Jahre wieder just dann, wenn es spannend wurde, davongestapft waren.
Der Onkel und die Tante bewohnten in Wirklichkeit kein Knusper-, sondern ein Schrebergartenhäuschen, und sie waren auch gar nicht meine echte Tante und mein echter Onkel, sondern ich hatte sie nur so gern, als wären sie’s. Trotzdem erging es mir dort immer wie dem Hänsel im Märchen. Sprich: Ich wurde gnadenlos gemästet – glücklicherweise ohne kannibalistische Absicht.

Jener Heilige Abend bildete da keine Ausnahme. Während mir das dritte Lebkuchenhaus noch ebenso gut schmeckte wie dem Waldbauernpeter seine eine Jausensemmel, übten sich der Onkel und der Großvater, im Hinblick auf den abendlichen Schmaus, im Fasten: „Wenn man nie und nie einen Mangel zu leiden hat, wie ist man da arm!“
Um die Zeit nicht nur mit Aphorismen totschlagen zu müssen, entkorkte der Onkel unser Geschenk. Dann beschenkte er den Großvater, sie schenkten sich gegenseitig ein, und nachdem auch dieses Präsent geleert, ein weiteres ausgepackt und sogar der Geist einer vergangenen Weihnacht seiner Schnapsflasche entstiegen war, wurde es langsam besinnlich…

Der Spaziergang

Der Großvater erzählte Witze, erst witzige, dann welche, die ich nicht verstand, dafür lachte der Onkel Tränen. Nur die Tante fand dies weniger zauberhaft und zitierte den Realisten Rosegger: „Das schnelle Schlucken ist nicht gesund!“ Dass sie recht behalten sollte, zeigte sich bei Anbruch der Dämmerung, dem Zeichen zum Aufbruch, den der Großvater, unbewusst einem seiner Witze entsprechend, eher als Zusammenbruch interpretierte.
„Steh auf, Faulenzer“, sagte da die Tante zum Onkel, „jetzt höre, was ich dir sage. Du nimmst den Großvater beim Arm, denn der Pfad ist schlecht und die Stege vereist. Außerdem ist der Zustand des guten Mannes ganz allein deine Schuld!“

Und so stapften wir wieder davon, diesmal zu dritt.
Spaziergänge mit meinem Großvater waren immer schön, so lustig wie dieser aber war noch keiner gewesen. Die alten Herren sangen, schunkelten und tanzten mit vollen roten Wangen hinter mir her, und als wir den steilen Weg erreichten, der vom Wald zum Dorfteich hinunterführte, rodelten die zwei, zu meiner Begeisterung, neben mir den Abhang hinunter – und das ganz ohne Schlitten!

Die Schwierigkeiten begannen erst später – zu Hause nämlich, wo uns die weitaus weniger festlich gestimmte Großmutter schon erwartete. Unter ihrer Weihnachtspredigt verblasste die gute Laune der Herren wie die Umrisse der Nachbarhäuser in der hereinbrechenden Dunkelheit. Während die Großmutter ihrem Gatten heim- und dem Onkel zurück in den Wald leuchtete, setzte ich mich in ans Fenster der warmen Stube und bestaunte die draußen erwachenden Lichter.

Das Christkind

Ich hatte eine glückliche Kindheit, und mein Großvater war mein Held. Dass ich dieses eine Mal etwas länger auf die Bescherung warten musste als üblich – so lange nämlich, bis er wieder fit genug war, um „O Tannenbaum“ in der jugendfreien Version zu singen –, tat dem keinen Abbruch. Im Gegenteil. Schließlich sah ich ausgerechnet an diesem Heiligen Abend, just damals, als ich, satt vom Lebkuchen und müde vom Rodeln, am Fenster saß, zum ersten und einzigen Mal in meinem Leben das Christkind! Es bestand ganz aus Lichterketten und flog, einen strahlenden, über und über mit sterngelb funkelnden Geschenken beladenen Schlitten lenkend, am Haus vorbei …
Als ich mich umdrehte, saß hinter mir mein Großvater. Seine Wangen leuchteten nun wieder, und da wusste ich: Er hatte es auch gesehen.
Aber wir hüteten uns beide, etwas zu sagen.