Die Nummer ihres Festnetztelefons war ihr entfallen, deshalb schickte sie diese kurz vor dem Interview per SMS. Als sie das Telefon abhebt, spricht sie in langen, eloquenten Sätzen und mit bestimmtem rollenden „R“, manchmal schummeln sich Begriffe aus ihrer zweiten Muttersprache Englisch dazwischen. Nichts deutet darauf hin, dass Helga Rohra seit zehn Jahren mit der Diagnose Demenz lebt.

Rohra, die heute 65 Jahre alt ist, erklärt sich selbst so: „Ich bin eine junge Betroffene, ich tue viel dafür, dass die Krankheit nicht fortschreitet. Was ich Ihnen sagen wollte, habe ich mir vorher aufgeschrieben. Aber ich brauche auch bei allem Unterstützung.“ Als Demenzaktivistin will sie das Bild der Krankheit in der Öffentlichkeit verändern und sieht die „Demenz-Epidemie“ als Prüfstein für die Gesellschaft.

Frau Rohra, was waren die ersten Symptome der Erkrankung?

Helga Rohra: Ich habe als Dolmetscherin gearbeitet und sprach neun Sprachen. Doch als ich bei einer Konferenz übersetzen sollte, sind mir plötzlich die einfachsten Sachen nicht mehr eingefallen - in meiner Muttersprache Deutsch. Das war nur der Anfang: Ich konnte nicht mehr am PC schreiben, auch heute schreibe ich alles mit der Hand auf. Meine ganze Wohnung klebt voller Zettel, auf denen ich Dinge aufschreibe. Aber ich bin dankbar für die Fähigkeiten, die ich noch habe.

Wie ging es damals weiter?

Ja, ich verlor die Orientierung, konnte mich in München, wo ich ja seit Ewigkeiten lebe, nicht mehr zurechtfinden. Einmal stand ich in der Küche und wollte mir ein Spiegelei machen, doch ich wusste nicht mehr, wie das geht. Und dann stehe ich eines Morgens im Bad und sehe mich plötzlich selbst als Kind im Waschbecken herumlaufen. Heute weiß ich, dass das eine Halluzination war, aber damals bin ich sehr erschrocken und dachte: Jetzt wirst du verrückt.

Der Neurologe attestierte Ihnen ein Burn-out. Erst als die Symptome immer schlimmer wurden, gingen Sie ins Krankenhaus und hörten die Diagnose Demenz. Wie ging es Ihnen damit?

Der Arzt sagte zu mir: „Sie haben Lewy-Körperchen-Demenz und bald wird auch Parkinson dazukommen.“ Meine erste Frage war: Was kann ich tun, um das zu verhindern? Doch ich wurde völlig alleingelassen, keiner sagte mir: Es gibt Logopäden, es gibt Sozialarbeiter und Psychotherapeuten, die dir helfen. Das musste ich mir alles selbst suchen. Und das ist heute noch oft so: Die Ärzte sollten sich Zeit nehmen und aufzeigen, welche Möglichkeiten es gibt. Schließlich ändert sich das ganze Leben auf einen Schlag.

Sie leben nun schon seit zehn Jahren mit einer Krankheit, die eigentlich schnell voranschreitet. Wie ist es möglich, dass Sie noch Bücher schreiben und zu Vorträgen reisen?

Ich arbeite sehr viel an mir: Ich ging zur Logopädin und mache meine Sprachübungen. Ich gehe zur Ergotherapie und zur Tiertherapie, mache Sport. Aber vieles geht auch nicht mehr: Ich kann nirgendwo alleine hin, eine persönliche Assistentin ist immer dabei. Wenn ich zu Vorträgen reise, packen wir gemeinsam den Koffer, frühstücken gemeinsam. Es braucht immer jemanden, der auf mich guckt. Aber durch all das, was ich tue, bin ich noch immer in einem Anfangsstadium der Krankheit.

Ihre nächste Reise führt Sie nach Brüssel, Sie engagieren sich in der EU-Arbeitsgruppe der Menschen mit Demenz, die Ratschläge für eine „demenzfreundliche Gesellschaft“ gibt. Welche Forderungen haben Sie?

Ich spreche lieber von einer demenzsensiblen Gesellschaft: Das bedeutet, dass Menschen wissen, wie sich Demenzbetroffene verhalten und dass es auch jüngere Betroffene wie mich gibt. Wir werden immer mehr, und die Bevölkerung braucht mehr Wissen, sodass den Menschen die Ängste genommen werden. Heute schämen sich Betroffene für ihre Krankheit, dabei haben sie noch Fähigkeiten und dürfen nicht abgeschrieben werden. Und wir brauchen Inklusion: Ich bin strikt gegen Demenz-Cafés und Demenz-Dörfer, stattdessen sollen wir Ja zum Leben trotz Demenz sagen. Die wachsende Zahl von Demenzpatienten kann zu einer neuen Kultur des Zusammenlebens beitragen, in der wir es aushalten, dass manche Menschen eben langsamer sind, Ausfälle haben und sich Dinge nicht mehr merken können. Daran wird sich zeigen, wie die Gesellschaft mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht.