„Radikalisierung von Jugendlichen passiert normalerweise nicht von heute auf morgen“, sagt der Wiener Kinder- und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs. Auch im Fall des Terroranschlages in Wien sei dies nicht der Fall gewesen. „Diese Person hatte eine Geschichte hinter sich.“ In jedem einzelnen Fall gelte es, sich die Biografie genau anzuschauen.

Wie und wo Radikalisierung bei Jugendlichen (und auch schon Kindern) passiert, sei sehr unterschiedlich. Manche würden in sehr problematischen Familienverbänden aufwachsen, wo diese „abwertenden Einstellungen“ den Kindern und Jugendlichen von klein auf weitergegeben würden. Auch das religiöse Umfeld und der Freundeskreis spielten dabei oft eine wesentliche Rolle. Jugendliche, die indes von außen „bekehrt“ würden, befänden sich oft in einer schwierigen Lage, hätten kaum Halt in der Familie, Schwierigkeiten in Schule oder bei der Ausbildung oder seien sogenannte Außenseiter. „Dann kommen Menschen mit diesen extremen Gedanken zu ihnen und verführen sie mit falschen Versprechungen zu ihrer Ideologie.“ Macht, Geld, Anerkennung und das Gefühl einer Zugehörigkeit, das sind die Lockmittel oft gepaart mit Angstmache und Gewaltandrohungen. Eines sei allerdings immer gleich: „Meine Erfahrung ist, dass der Beginn einer Radikalisierung immer persönlich ist. Nicht über soziale Netzwerke oder online, sondern mit echten Menschen“, so Nik Nafs. Sprich Menschen, die entweder bereits Bezugspersonen sind oder etwa im Freundeskreis in Kontakt mit den Jugendlichen treten. „Manchmal ist es sogar die Entscheidung der Eltern“, so der Experte. Erst in einem zweiten Schritt würden sich die Betroffenen im Internet informieren und dort auf Gleichgesinnte stoßen.

Wie aber erkennt man eine Radikalisierung als Elternteil, Lehrer oder Freund? „Die Kinder entfremden sich ihrer Umwelt, wollen nichts mehr mit ihren Freunden machen, die alltäglichen Bedürfnisse ändern sich, sie ziehen sich plötzlich anders an, reden anders, essen anders, versuchen zu missionieren“, erklärt der Experte. Passiere dies in einer Familie oder einem Schulverband, wo es einen starken Bezug zum Betroffenen gibt, würde man die Veränderung „sofort merken“. Oft würde es den Betroffenen aber gerade an dieser sozialen Einbindung fehlen. Wo es keine aufmerksamen Bezugspersonen gäbe, würde die Radikalisierung scheinbar unsichtbar voranschreiten. Manchmal sei genau das ein bewusster Auftrag an die Jugendlichen. „Es gibt auch Gruppen, die den Jugendlichen sagen, nicht so früh damit raus zu gehen, nicht gleich ihre Ideologien mit ihren Eltern zu teilen“, erklärt der Kinder- und Jugendanwalt. Wenn die Jugendlichen dann mit ihren Eltern und ihrem Umfeld brechen und alles zurücklassen, um in den Dschihad zu ziehen, komme das wie aus heiterem Himmel. Fälle von sogenanntem „Turbodschihadimus“ gäbe es zwar auch, diese seien aber nicht die Norm.

Nachfragen, das Gespräch suchen, nicht abkanzeln

Was also tun, wenn man Veränderungen bei Kindern und Jugendlichen bemerkt? Wenn Kinder plötzlich abfällige oder menschenverachtende Bemerkungen über andere machen, sie abwertend behandeln, die Menschenrechte verteufeln oder Gräben schaffen zwischen den Religionen und den Geschlechtern? „Wichtig ist es, sie zu fragen, woher sie diese Informationen eigentlich haben“, betont der Extremismus-Experte. Nur durch das Nachfragen, das Gespräch und die Aufklärung könne eine Umkehr gelingen. Ganz falsch sei es, die Betroffenen in diesem Moment abzukanzeln. Genau das würde sie noch stärker und schneller in die Arme der Extremisten treiben. „Wir dürfen nicht zulassen, dass die Jugendlichen bei diesen extremistischen Gruppen landen“, pocht Nik Nafs. Wie das gehen kann? „Wir müssen Gewalt, Abwertung und Mobbing möglichst verhindern und Kindern und Jugendlichen ein Umfeld geben, wo sie ihre Meinung sagen können. Und wenn ihre Meinung einmal abwertet oder die andere als Feinde sieht, dann muss man dem nachgehen und nicht gleich sagen, du bist so schlimm.“

Ercan Nik Nafs, Kinder- und Jugendanwalt in Wien
Ercan Nik Nafs, Kinder- und Jugendanwalt in Wien © Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien

Und wie spricht man das Thema am besten an? Bis sich Kinder und Jugendliche radikales Gedankengut aneignen, dauere es eine Zeitlang. „Wichtig ist, zu klären, woher eigentlich diese Propaganda kommt und wer dafür verantwortlich ist“, so der Experte. Erst dann könne man mit den Jugendlichen reden, und zwar „nicht unbedingt auf Grundlage von Religion oder Ideologie, sondern auf Grundlage der demokratischen Grundhaltung und der Menschenrechte“. Etwa mit der Verfassung und den Grundrechten argumentieren. Die Menschenrechte und die Grundrechte einer liberalen Demokratie von klein auf zu vermitteln, sei das Um und Auf. „Die Stärkung der Demokratie und der Menschenrechte ist die einzige Möglichkeit gegen solche extremistischen Kräfte zu wirken“, betont Nik Nafs. Und weiter: „Wir müssen die Kinder und Jugendlichen über ihre Rechte informieren, ihnen beibringen, dass sie ein Recht darauf haben, ohne Gewalt aufzuwachsen, und, dass sie diese Rechte immer und überall haben, auch in der Familie oder in der religiösen Gruppe.“