Werden Missstände in öffentlichen Pflegeeinrichtungen bekannt, geht ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Dann gehört dringend etwas getan. Findet Pflege innerhalb der Familie statt, wird hingegen selten gern und schon gar nicht genau hingeschaut. Sobald die Situation dann ganz offensichtlich aus dem Ruder läuft, wird dies gern mit „Überforderung“ abgetan. Schicksal, ist halt so? „Von wegen“, sagt dazu die deutsche Altersforscherin, Psychotherapeutin und Buchautorin Gerda Blechner, die genug von der Verharmlosung des Themas hat. „Weltweit finden nur knapp 20 Prozent aller Misshandlungen von Pflegebedürftigen laut WHO-Bericht in Alters- und Pflegeheimen statt und gut 80 Prozent im familiären Rahmen“, sagt sie und meint damit nicht nur körperliche Übergriffe, sondern auch und vor allem die ganze Palette an psychischen Grausamkeiten.

192 Familien, in denen ein Angehöriger gepflegt wird, begleitete sie über zwei Jahre mit gesprächs- und familientherapeutischen Sitzungen, um herauszufinden, was eine gelungene Pflegebeziehung ausmacht bzw. verhindert. Das größte Problem, das sie dabei feststellte, war die Machtumkehr: Der plötzliche Rollentausch, wenn etwa das Kind die Verantwortung für seine Eltern übernehmen muss, ist schon schwierig genug und verändert die Familiendynamik ohnehin gehörig.

Gerda Blechner, Jahrgang 1937, studierte Ethnologie udn Psychologie, arbeitete lange in der Psychiatrie und hat sich auf Altersforschung spezialisiert.
Gerda Blechner, Jahrgang 1937, studierte Ethnologie udn Psychologie, arbeitete lange in der Psychiatrie und hat sich auf Altersforschung spezialisiert. © KK

„Zusätzlich ist Pflege aber weit mehr als ein Zipfelchen von Macht“, sagt die Expertin. „Wenn Kinder früher oft von ihren Eltern zu Dingen gezwungen wurden, kippt die Situation häufig, wenn sie nicht mehr die Hilflosen sind, sondern die Starken.“

Anders gesagt: Wie gut eine Pflegebeziehung gelingt, hängt davon ab, wie gut die Beziehung vor Eintritt der Pflegebedürftigkeit war. Hinzu kommt noch die eigene Persönlichkeitsstruktur: „Wenn ich glaube, dass etwas immer genau so zu geschehen hat, wie ich mir das vorstelle, wird es in der Pflege schwierig, weil der Gepflegte das alles vielleicht gar nicht mehr leisten kann, was ich von ihm erwarte“, sagt Blechner. Der Ausweg aus dem Dilemma: „Es ist keine Schande zuzugeben, dass man sich um seinen Angehörigen nicht genug kümmern kann. In manchen Konstellationen geht das einfach nicht“, sagt Blechner und appelliert: „Wichtig, ist es, Hilfe von außen anzunehmen.“

Genau hier knüpft auch Birgit Meinhard-Schiebel, Präsidentin der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger, an: „Vor allem Frauen glauben, dass sie in der Pflege alles leisten müssen, bis hin zur Intimpflege ihres Partners. Männer sind da eine Spur pragmatischer, sie sagen, was sie können und was nicht. Sie übernehmen nicht automatisch alles.“ Und Hilfe zu bekommen, sei gar nicht vorrangig eine finanzielle Frage, sind sich die Experten einig. „Das Problem ist eher der Informationsmangel.

Hilfe gibt es, aber die Menschen wissen nicht, wo“, sagt auch Marion Rößmann, die selbst pflegende Angehörige war und heute Menschen in ähnlichen Situationen psychosozial berät. Was sie sich für pflegende Angehörige am meisten wünscht? „Eine Art Kummernummertelefon, wo jemand da ist, der einfach zuhört und weiß, wo man sich weitere Unterstützung holen kann.“
Darüber, was zu tun ist, wenn jemand in der Familie pflegebedürftig wird, sollte freilich schon viel früher gesprochen werden, im Familienrat und solange noch alle gesund sind. „Die Situation kann ja uns alle jederzeit treffen“, sagt Meinhard-Schiebel. Der Satz, den sie von Betroffenen ständig hört, lautet allerdings: „Damit hab ich nicht gerechnet.“