"Viele suchen Vertröstungen statt Trost", konstatieren Bischof Hermann Glettler und Psychiater Michael Lehofer in ihrem Buch "Trost - Wege aus der Verlorenheit". Am Sonntag präsentierten es die beiden Autoren im Styria Media Center. Viele kamen, allen voran auch Landeshauptmann Hermann Schützenhöfer.

Die Autoren im Interview

Ein Bischof und ein Psychiater schreiben zusammen ein Buch – wie darf man sich das vorstellen? Wer ist Stichwortgeber, wer Schriftführer?

MICHAEL LEHOFER: Aus der Idee des einen entsteht die Idee des anderen. Das ist ein unverkrampfter Prozess, der über einen jahrelangen Dialog entsteht – als Ausdruck des Aufeinanderzugehens.

HERMANN GLETTLER: Wir mussten trotzdem für das Thema einen Rhythmus finden, der aus den vielen Aspekten und Bedeutungsebenen etwas formt, was man gerne liest.

Was man zu lesen bekommt, ist mehr als ein Trost-Ratgeber. Sie durchwühlen unsere Gesellschaft nach Bruchlinien und Verwerfungen. In Ihren Analysen sind Sie sich über weite Strecken einig. Da ist wenig Reibung, viel Konsens. Wenn Sie nicht den Job hätten, den Sie haben – hätten Sie gerne den des anderen?

GLETTLER: Ich als Psychiater? Ich wäre wahrscheinlich total überfordert. Aber im notwendigen Begleiten von Menschen und im Aushalten von Trostlosigkeit gibt es erstaunlich viele berufliche Schnittmengen – auch im Öffnen von Räumen, wo Heilung passieren kann.

LEHOFER: Tatsächlich besteht eine Ähnlichkeit im Aufeinanderzugehen auf Menschen, in der Bereitschaft, ins Land des anderen zu gehen, und ihn umgekehrt einzuladen, ins eigene zu kommen.

Sie weisen auf den Trost als menschliches Grundbedürfnis hin – und Sie orten eine Unterversorgung damit, begründet in einem „permanenten Optimierungsstress“. Macht uns der Wohlstand blind für das Wesentliche?

LEHOFER: Das ist mir zu einfach. Aber es gibt eine gewisse Übersättigung, die uns eigenartigerweise hungrig macht. Aus der Idee, sich alles organisieren zu können, was einen befriedigt und glücklich macht, entsteht eine tiefe Trostlosigkeit als Grundton in der Gesellschaft, der uns alle betrifft. Aber echte Erfüllung kommt nicht durch den Wohlstand, die subjektive Realität, alles haben zu können, was man haben will, sondern durch das Geschenk, das uns das Leben macht. Deshalb sollte man mit der Selbstverwirklichung Maß halten und dem Leben eine Chance geben.

GLETTLER: Wohlstand ist ein Geschenk und ein leeres Versprechen zugleich. Wenn wir durch das Zuviel das Gefühl für das Kostbare und Schöne des Lebens verlieren, entsteht eine trostlose Dynamik. Nichts reicht mehr, unersättlich treiben wir uns selbst und unsere Umwelt in die Erschöpfung. Fast eine perverse Dynamik, die kaum zu stoppen ist.

Woran liegt das?

GLETTLER: Man verliert die Berührung mit sich selbst und mit dem Urquell von allem, den wir Gott nennen.

LEHOFER: Diese Unmittelbarkeit der Begegnung braucht es aber. Sie führt dazu, Verluste annehmen zu können. Eine Tröstung ist ein Ermutigungsphänomen. Wirklicher Trost nimmt die Trostlosigkeit ernst. Das ist der Unterschied zur Vertröstung. Aber viele von uns suchen eher Vertröstungen statt Trost. Der wahre Trost ist nicht so populär.

GLETTLER: Trost ist kein Konsumgut. Er lässt sich weder machen noch gibt es ihn auf Bestellung. Vertröstungen schon. Echter Trost befreit von der Lüge einer heilen Welt. Nur wer durch persönliche Erschütterungen hindurchgegangen ist, wird am Ende Ja zu sich und dem Leben sagen können. Und auch mitfühlend genug sein, andere zu trösten.

Sie sprechen von einer neuen Traurigkeit, die in unserer „wohlstandsübersättigten“ Spaßgesellschaft um sich greift, in der Maximierung zur Leitwährung wurde.

GLETTLER: Im Spaßangebot allein liegt kein nachhaltiges Trostpotenzial. Die Wurzel der Entfremdung liegt darin, dass wir das Maß verloren haben. Unsere Welt ist doch in eine soziale und ökologische Schieflage geraten. Viel Elend schreit zum Himmel. Moria ist ein Symbol trostloser Flüchtlingspolitik. In unserem Buch sprechen wir von einem „weltsichtigen“ Trost. Das ist mehr als nur die Sorge um eine berechtigte Harmonie für das Individuum. Wirklicher Trost scheut nicht den Blick auf die großen Wunden unserer Zeit. Trösten ist die Zumutung von Wahrheit.

Erleben Sie durch Corona einen gestiegenen Bedarf an Trost?

LEHOFER: Durch die gegensteuernden Maßnahmen gibt da eine eigenartige Latenz der Traumatisierung, die uns als Gesellschaft und jeden Einzelnen unterschiedlich treffen. Diese Bedrohungen schleichen langsam heran und jedem schwant nur langsam, was auf ihn zukommt. Es entsteht eine ganz eigenen Verlorenheit – und zugleich eine Sehnsucht nach einer neuen Lebendigkeit, die jedoch nicht oberflächlich gestillt werden kann.

GLETTLER: So manche Sicherheit ist uns abhandengekommen. Wir sind nicht so souverän, wie wir uns gerne einbilden. Wir müssen verstehen und annehmen lernen, dass wir immer dem Leben ausgesetzt sind. Mit dem Wunsch nach einer totalen Sicherheit richten wir es zugrunde. Und wer Trost im Glauben an Gott findet, steigt auch nicht in einen himmlischen Kuschelkurs ein. Er setzt sich dem schönsten und zugleich abgründigsten Geheimnis aus.

„Tröstung entzieht sich professioneller Kompetenz“, sagen Sie (Lehofer, Anm.) in dem Buch. Ist das die Kapitulation des Psychiaters vor der Psyche?

LEHOFER: Nein. Aber Trost ist keine Domäne einer Profession.

GLETTLER: Wir haben leider die Neigung, alles an Profis zu delegieren. Wahr ist, dass jeder Mensch trösten kann. Wichtig ist, authentisch zu bleiben und sich selbst auf ein Du hin zu verlassen – trotz aller Unsicherheit. Trost kann auch im Teilen der Hilflosigkeit liegen. Zuwendung tröstet – ein Trotzdem-Anrufen, ein Trotzdem-Hingehen. Es ist fast eine Grundregel: Wer versucht, seinen Nächsten zu trösten, wird auch selbst beschenkt.

„Wir sollten uns trauen, traurig zu sein!“ raten Sie. Warum fällt uns das so schwer – das Traurigsein und das Erkennen der Trauer als Tor zu Neuem? Hängen wir zu sehr an dem, was wir haben?

GLETTLER: Echter Trost muss zuerst der Trauer Raum schaffen. Wenn nötig ist ein Mitweinen notwendig. Erst dann, wenn die Zeit reif ist, müssen wir uns zu einem Perspektivenwechsel ermutigen.

Trauer ist das „hilfloseste aller Gefühle“, schreiben Sie.

LEHOFER: Ja, Trauer ist eine sehr mühsame Arbeit. Aber Trauer ist die Voraussetzung von Veränderung. Ohne Trauer kann kein Abschied gelingen, ohne Trauer können wir keine Vorstellung eines Neubeginns haben. Man darf Trauer nicht zu negativ bewerten. Sie ist sehr wertvoll im Leben – auch wenn es mitunter sehr schmerzhaft sein kann, wenn man sie selbst erlebt.

GLETTLER: Tränen sind eigentlich ein Geschenk. Sie können eine reinigende Wirkung haben und den Blick auf Neues freiwaschen. Meist zeigen sie an, dass im eigenen Herzen etwas in Bewegung gekommen ist. Trostlos ist die Gleichgültigkeit.

Die Gefahr ist jedoch, sich eine Selbstwirksamkeit von Trost zu erwarten. Die gibt es nicht. „Trösten ist das Begleiten zu einer Antwort, die jeder Mensch für sich selbst finden muss“, schreiben Sie. Erwarten wir zu viel von Trost? Überfordern wir die Tröster?

GLETTLER: Kann sein. Wirkliches Trösten ist die Ermutigung zur Selbstverantwortung. Es ist eine Wegbegleitung, aber den Weg gehen, muss jeder Mensch selbst – durch alle Störungen und Enttäuschungen hindurch. Natürlich wollen wir Bruchstellen vermeiden, aber genau durch diese „undichten Stellen“ kann Licht hereinfallen – und das Leben neu gelingen.

Trösten Sie sich auch gegenseitig?

LEHOFER: Ja, Hermann ist als Freund ein Ansprechpartner für mich. Er schafft es, mich zu trösten, weil er nicht seine eigenen Konzepte in den Vordergrund rückt, sondern zuhören kann und einen behutsam aus dem Dunkel führt, aus dem heraus wieder eigene Kreativität entstehen kann.

GLETTLER: Ich bin nun seit drei Jahren Bischof – das ist schon eine Herausforderung, nicht selten auch eine Belastung. Gespräche mit Michael helfen mir da, komplexe Situationen gut anzuschauen und ungute Knoten zu entwirren. Das hat eine tröstende Wirkung für mich. Danke!