Gleich zu Beginn der Pandemie stand fest, dass wir in nächster Zeit auf Abstand zueinander gehen sollen, um andere zu schützen. Was ging Ihnen hier durch den Kopf?

Martin Grunwald: Ich wusste, dass das für unsere Spezies, uns als Säugetiere, eine ausgesprochen schwierige Zeit wird. Wir wissen aus Forschungen, dass wir uns miteinander wohlfühlen, weil wir körperkommunikative Signale austauschen können. Wenn diese wegfallen, fehlt uns ein zentraler Kommunikationskanal.

Wird diese Phase Schäden hinterlassen?

Warum vermissen wir Berührungen so sehr?

Berührungen sind ein soziales Bindemittel. Menschen, denen wir nahe sind, denen sind wir auch physisch nahe. Die physische Nähe transportiert entscheidende Signale zwischen Säugetieren. Auch Hund oder Katze brauchen ein gewisses Maß an Körperkommunikation, damit es ihnen mit uns gut geht.

Was passiert bei Berührungen im Körper?

Über Berührungsreize wird soziale Biochemie in uns freigesetzt, die nur auf diese Art und Weise entstehen kann. Das kann man durch keinen anderen Reiz ersetzen. Nehmen wir an, Sie haben sich mit Ihrem Partner gestritten. Damit dieser Streit wieder beigelegt werden kann, werden Sie höchstwahrscheinlich kein Gedicht vorlesen, sondern man umarmt oder knufft sich als Zeichen, dafür dass der Streit vorbei ist. Die andere Ebene der Körperkommunikation ist, dass wir durch Berührungsreize schnell entspannen. Eine kurze Umarmung führt bei Menschen, die sich gut kennen, zu einer Entspannungsreaktion. Und diese ist wiederum extrem wichtig für die Stressregulation im Alltag.

Ist man je nach Alter unterschiedlich bedürftig nach Körperkontakt? Brauchen Kinder mehr als Erwachsene oder Ältere?

Auf jeden Fall. Das hat auch mit dem Stress zu tun, den Kinder nun erleiden müssen und mussten. Durch den intensiven Kontakt gelingt eine Beruhigungsreaktion. Für Kinder ist Körperkontakt absolut essenziell. Natürlich auch für Jugendliche, aber hier spielen andere Ebenen eine Rolle – die Partnersuche, die Verbindung von Körperinteraktion zur Sexualität. Deswegen kann die Coronakrise für die jungen Leute extrem und dramatisch sein.

Inwiefern?

Ein 70- oder 80-jähriger Mensch hat sich vielleicht schon damit arrangiert, dass sein gesellschaftlicher und körperlicher Umgang, weniger geworden ist. Aber die jungen Leute sind von heute auf morgen von hundert Prozent auf null Prozent geschickt worden. Das ist eine extrem traumatische Situation, aber darüber spricht keiner. Man spricht vor allem von den alten Menschen, die keinen oder weniger Besuch bekommen. Das ist wirklich sehr schlimm, aber ich denke, dass ältere Menschen viel mehr Erfahrung mit der Realisierung von Verzicht haben. Das hängt mit Erkrankungen und Bewegungseinschränkungen und normalen Alterungsprozessen zusammen. Aber für die jungen Leute gibt es gar keine biologische Einschränkung – eben nur jetzt die Gebote der Vernunft. Insofern sollten wir ein Auge auf Kinder und Jugendliche haben.

Sie forschen auch zum Thema Magersucht, also Anorexie. Was hat sie mit Berührung zu tun?

Vorwiegend anorektische Frauen haben ein Defizit in der Körperschema-Entwicklung. Sie empfinden Ihren Körper anders als er objektiv vorhanden ist. Sie erleben ihn als fett, auch wenn sie abgemagert sind. Wir denken, dass die Hirnregion, die das leistet, eine Entwicklungsstörung aufweist. Diese könnte damit zu tun haben, dass die Patienten in der Kindheit zu wenige Körperinteraktionen erlebt haben. Ein kühles, leistungsorientiertes Elternhaus, das wenig Körperkommunikation anbietet, kann das Verhältnis zum eigenen Körper nachhaltig negativ beeinflussen. Deswegen sollte man ein offenes Ohr für Kinder haben, aber umso mehr, auch offene Arme.

Seit Beginn der Coronakrise hört man, dass man sich nicht ins Gesicht fassen sollte. Warum fällt uns das so schwer?

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Wir berühren unser Gesicht am Tag zwischen 400 und 800 Mal und merken es gar nicht. Wir haben Studien gemacht, die zeigen, dass das ein Mechanismus ist, den wir schon als Fötus im Mutterleib haben. Wenn die Mutter zum Beispiel einen traurigen Film schaut, fängt das Baby im Bauch schon damit an. Je trauriger die Mutter ist, umso mehr Selbstberührungen macht auch das Baby im Bauch. Wir machen das, wenn wir Stress haben. Deswegen kann man dieses Verhalten auch nicht unterdrücken, denn Selbstberührungen bringen unseren emotionalen Status in Stresssituationen wieder auf ein mittleres Niveau. Da wir im Laufe eines 16 Stunden-Tages ständig solche Ereignisse erleben, finden diese Selbstberührungen auch so häufig statt. Wir nennen das emotionale Homöostase Regulation. Wir regulieren mit Selbstberührungen unsere Emotionen und auch unser aktuelles Arbeitsgedächtnis. Selbstberührungen helfen unserem Gehirn im Alltag mit ganz verschiedenen Situationen klarzukommen. Es ist daher viel besser, diesen Drang nicht zu unterdrücken, sondern sich stattdessen darauf zu konzentrieren, sich bei jeder Gelegenheit, die Hände zu waschen.