Ein Meter also – dank Corona das neue Gardemaß körperlicher Nähe. Eine Entfernung, die als individueller Antivirusschutzschild dienen soll. Schwierig für ein radikal soziales Wesen wie den Menschen, dessen Selbstverankerung im Raum und der Gesellschaft „auf Bindung und Beziehung“, wie es die Psychotherapeutin Martina Leibovici-Mühlberger formuliert, aufbaut. Man umarmt sich, man küsst sich, man schupft sich, man schlägt sich: Das alles funktioniert ohne Berührung nicht. Es braucht Tuchfühlung.

Von der Politik ins Spiel gebracht: Der Babyelefant als Abstandsnorm. In Schönbrunn nachgefragt: Eigentlich misst man bei Elefanten die Höhe, nicht die Länge. Es bleibt also abstrakt.
Von der Politik ins Spiel gebracht: Der Babyelefant als Abstandsnorm. In Schönbrunn nachgefragt: Eigentlich misst man bei Elefanten die Höhe, nicht die Länge. Es bleibt also abstrakt. © AP

Es ist der entscheidende Unterschied zur Technik, in der Kürzel wie das griechische „tele“ (fern) oder das englische „WLAN“ (Wireless Local Area Network) darauf hinweisen, dass Kommunikation über Telefon, Television oder einen kabellosen Laptop längst nicht mehr auf direkten physischen Kontakt angewiesen ist. Der Mensch aber, er muss betasten, fühlen, angreifen, streicheln, Hände schütteln, Schultern klopfen, mit den Füßen treten. Auch um sich selbst zu spüren.

Im US-Bundesstaat New Jersey, Heimat von Bruce "The Boss" Springsteen, empfiehlt man nicht einen oder zwei Meter Abstand, sondern „einen Springsteen“. Der Sänger ist übrigens 1,77 Meter groß.
Im US-Bundesstaat New Jersey, Heimat von Bruce "The Boss" Springsteen, empfiehlt man nicht einen oder zwei Meter Abstand, sondern „einen Springsteen“. Der Sänger ist übrigens 1,77 Meter groß. © Instagram

In diese Verhaltensmatrix passt kein Mindestabstand. Zumindest keiner, der abseits normaler Anstandsregeln von Obrigkeiten hinter Plexiglaswänden verordnet wird. Der Urmeter als Damoklesschwert über all unseren Begegnungen – das sorgt für Unbehagen und Unsicherheit: ins Leere fahrende Hände. Ziellos gespitzte Bussi-Bussi-Lippen. Sind wir uns schon zu nahe gekommen? Ungelenkes Verbeugen. Verstohlenes Winken. Störe meine Kreise nicht! Erboste Blicke über Mund-Nasen-Masken. Zugewandte Rücken. Halte Abstand!

Modischer Abstandhalter Hut: Wer es eher klassisch und nicht im ausgefallenen Ascot-Style mag, trägt Sombrero in Übergröße.
Modischer Abstandhalter Hut: Wer es eher klassisch und nicht im ausgefallenen Ascot-Style mag, trägt Sombrero in Übergröße. © imago images/Everett Collection

Aber wie lange ist ein Meter überhaupt? Wie weit ist das? Volksschulwissen? Nicht ganz.

k.o.für Corona: Boxlegende Muhammad Ali (re.) hatte eine Reichweite von knapp zwei Metern. Die abgeleitete Schlagdistanz von einem Meter wäre der perfekte Virusschutz gewesen.
k.o.für Corona: Boxlegende Muhammad Ali (re.) hatte eine Reichweite von knapp zwei Metern. Die abgeleitete Schlagdistanz von einem Meter wäre der perfekte Virusschutz gewesen. © AP

Für eine konkrete Antwort reicht nämlich kein Blick auf ein Lineal oder Maßband. Dort findet sich nur das Ergebnis eines wissenschaftlichen Diskurses, der Ende des 18. Jahrhunderts in Frankreich seinen Ausgang nahm. Um die regionalen Unterschiede der verwendeten Körpermaße (Elle, Fuß, Zoll) zu vereinheitlichen, beschloss die Nationalversammlung in Paris am 26. März 1791 die Einführung einer universellen Längeneinheit. Nur woher nehmen? Die herangezogene Berechnungsgrundlage klingt abstrakt: Sie wurde vom damals noch durch Paris verlaufenden Nullmeridian abgeleitet. Der Urmeter sollte so lange sein wie der zehnmillionste Teil der Strecke zwischen Nordpol und Äquator.

Erst 1889 wurde es genauer. Ein Meterprototyp aus einer Legierung aus 90 Prozent Platin und zehn Prozent Iridium wurde mit einem X-förmigen Querschnitt gegossen und festgelegt, dass dessen Ausdehnung bei 0 Grad als Meter-Normmaß gilt. Der Stab liegt in Paris im Museum – ist seit 1983 aber gar nicht mehr das Nonplusultra.
Denn nach – auch mit einem Nobelpreis ausgezeichneten – Berechnungsmethoden, die den exakten Meter über die Wellenlänge von Gasen zu präzisieren versuchten, kam in den 1980er-Jahren der Laser ins Spiel.

Die Zoologen von Schönbrunn empfehlen ein Tier, das die Distanzsicherung am Kopf integriert hat: Das afrikanische Watussirind trägt Hörner, die jeweils einen Meter lang sind – das verschafft Abstand!
Die Zoologen von Schönbrunn empfehlen ein Tier, das die Distanzsicherung am Kopf integriert hat: Das afrikanische Watussirind trägt Hörner, die jeweils einen Meter lang sind – das verschafft Abstand! © imago stock&people

Mit Laserlicht sind unheimlich genaue Abstandsmessungen möglich. So entschied man sich, die Lichtgeschwindigkeit als einheitlichen Maßstab zu verwenden. Das Ergebnis: Seit 1983 ist ein Meter als diejenige Länge definiert, die ein Lichtstrahl in einem 299.792.458. Bruchteil einer Sekunde zurücklegt. Wenn das das Virus wüsste ...
Mit (mehr oder weniger) anschaulichen Annäherungsmodellen wie der Höhe eines Babyelefanten oder der Länge eines Einkaufswagerls, die aktuell als Universalmaß gegen Auffahrunfälle im Alltag dienen, hat das wenig gemein.

Der rollende Abstandsmesser: Das Einkausfwagerl ist mittlerweile Pflichtausstattung für Hamsterkäufe aller Art - sein Meter wird spürbar, wenn der Hintermann an der Supermarktkassa in den Rücken kracht.
Der rollende Abstandsmesser: Das Einkausfwagerl ist mittlerweile Pflichtausstattung für Hamsterkäufe aller Art - sein Meter wird spürbar, wenn der Hintermann an der Supermarktkassa in den Rücken kracht. © stock.adobe.com

Was bleibt, ist die ungemütliche Erkenntnis, dass durch das Virus auch Nähe und Distanz von Beziehungen neu definiert werden, privat und geschäftlich. Wie viel Entfernung gilt als steif und abgehoben, ab wann wird Nähe als übergriffig und bedrängend empfunden? Unser Leben wird gerade neu vermessen.