Es ist nur ein kleiner Schnitt an einem Fuß, aber der gewährt einen dramatischen Einblick, weil er eine Grenze überschreitet. Er öffnet einen Körper und gibt den Blick frei auf Blut und Fleisch. Der Knochen dahinter, der lässt sich erahnen. Unsichtbar, aber fast körperlich spürbar, schwingen Schmerz und auch Angst mit. 1992 hat der Foto-Künstler Andres Serrano in einer New Yorker Leichenhalle seinen Bilderzyklus „The Morgue“ angefertigt. Eine Inszenierung von Verwundung und Tod, in fast renaissancehafter Klarheit.

„Zeig mir deine Wunde“, fordert das Wiener Dom Museum in seiner aktuellen Ausstellung auf und stellt damit eine Frage, die intimer nicht sein könnte. Denn das Herzeigen seiner Wunden kommt in einer auf Stärke gepolten Gesellschaft einem Akt der Schwäche gleich. Das steht diametral zur christlichen Bildtradition, die seit über 2000 Jahren die Wunde und die Verwundung als zentrales Element der Stärke zelebriert.
In diesem Kontext kommt es zum spannenden Austausch mit der Kunst der Moderne, die die Spielarten der Verwundbarkeit auch als Annäherung an die menschliche Existenz begreift. So greift unter dem Banner „Die Wunden des Körpers“ Günter Brus zur Rasierklinge. Eine Wunde als Plädoyer für das Sichöffnen, das Sich-verletzbar-Machen.

Günter Brus, Der helle Wahnsinn, 1968
Günter Brus, Der helle Wahnsinn, 1968 © Henning Wolters

Erkan Özgen hingegen spürt mit seiner Videoarbeit „Wonderland“ der Politik der Verwundung nach. Es zeigt den gehörlosen Mohammed, der mit einer Gänsehaut erzeugenden Intensität die Gräuel beschreibt, die er im syrischen Bürgerkrieg gesehen hat. Mit weit aufgerissenen Augen legt er den Daumen an seinen Hals und zieht eine horizontale Linie. Erlebnisse, die innerliche, unsichtbare Wunden schlagen und nicht nur den Einzelnen, sondern ganze Gesellschaften leidend zurücklassen.

Gerhard Rühm hingegen führt zusammen, was für die christliche Kunst immer schon zusammengehört hat: Das Wort Wunde trennt vom Wunder ohnehin nur ein Buchstabe. Das zeigt sich nicht nur in Kreuzigungsszenen und Heiligendarstellungen, wie jener des heiligen Sebastians, der für seinen Glauben von den Römern mit Pfeilen durchbohrt wird und immer noch lebt. Klaffende Wunden, die auf eine andere, eine metaphysische Ebene verweisen – nicht zuletzt am heutigen Karfreitag: die Unverwundbarkeit, die über den Tod hinausgeht.
Die Wunde, das Blut, die als Quelle des Lebens fungieren, zeigen sich nirgendwo intensiver als in der Darstellung „Schmerzensmann mit Engel“ aus dem Jahr 1480. Wie ein Strahlenkranz schießt das Blut aus den Wunden Jesu Christi: Blut als Lebenssaft.

Schmerzensmann mit Engel um 1480
Schmerzensmann mit Engel um 1480 © Courtesy Keresztény Múzeum, Esztergom

Wunden nicht als Makel, sondern als Zeichen der Stärke zu sehen, wie es Joseph Beuys tat, der auch in der Ausstellung vertreten ist: „Eine Wunde, die man zeigt, kann geheilt werden.“ Dass sie auch eine bleibende Mahnung sein kann, zeigt ein beschädigtes Kreuzigungsbild aus dem Erzbischöflichen Palais: Am 7. Oktober 1938 hält Kardinal Theodor Innitzer im Stephansdom eine Rede vor rund 6000 Jugendlichen. Als Racheakt stürmen am nächsten Tag Angehörige der SA und Hitlerjugend das Erzbischöfliche Palais. Im Zerstörungswahn stechen sie auf das Kreuzigungsbild ein. Es wurde nie repariert. Warum auch? Wer seine Narben offenlegt, der lässt nicht zu, dass Taten und Täter vergessen werden.