Es gehört zu den berühmtesten Anekdoten aus dem Leben Adolf Hitlers, dass er als Jugendlicher nach einem Besuch von Richard Wagners Oper „Rienzi“ in Linz beschlossen habe, Politiker zu werden. Die Authentizität dieser Erweckungsgeschichte wird zwar bezweifelt, was nichts am Faktum ändert, dass der Diktator ein glühender Verehrer und Kenner der Werke Wagners war. Diese Kenntnis war dem einfachen Gefreiten, gescheiterten Künstler und Populisten eine Eintrittskarte in bildungsbürgerliche, elitäre Kreise und doch war es mehr als ein Instrument. Hitler liebte Wagner und sah sich wohl als geistesverwandt, als ebenso genialen Visionär, der jedoch vom Gebiet der Kunst auf jenes der Politik gewechselt sei.
Die Erben des 1883 verstorbenen Komponisten liebten den „Führer“ zurück: teils aus Opportunismus, teils aus geistiger Verwandtschaft. Ab den 20ern hatte sich die völkische Ideologie in Bayreuth nachhaltig eingenistet. Wagners Schwiegertochter Winifred war richtiggehend verliebt in ihren Duzfreund Hitler, während die Enkel Wolfgang und Wieland ihn zärtlich „Onkel Wolf“ nannten.

Der Wagner-Clan und der Diktator besonnten sich gegenseitig, doch das Verhältnis zwischen Wagners Werken und Wirkung und dem Dritten Reich war komplexer, wie US-Autor Alex Ross in seinem Buch „Die Welt nach Wagner“ ausführt. Der Wagnerkult der Nazis basiert mehr oder weniger auf einem privaten Spleen Hitlers, dem die Mehrheit der NS-Kader und die Volksmasse verständnislos gegenüberstanden. Berühmt sind die Episoden, als der erboste Hitler bei den Nürnberger Parteitagen Funktionäre aus den Weinkellern holen ließ, um die leeren Reihen bei den Wagner-Aufführungen in der Oper aufzufüllen.


Tatsächlich gingen die Aufführungszahlen von Wagners Opern während der Naziherrschaft von 1930 bis 1940 um etwa die Hälfte zurück. Ross: „Propagandaminister Joseph Goebbels wusste, dass sich die Öffentlichkeit vor allem für Schlager, Tanzmusik, Operetten und leichte Klassik interessierte. Trotz der antiamerikanischen Propaganda war das Dritte Reich in gewisser Weise eine faschistische Version der amerikanischen Konsumgesellschaft, in der Massenkultur, Sport und technologisches Spielzeug den Ton angaben.“ Ross ist überzeugt, dass die Nazis ein ideologisches Zerrbild Wagners anbeten mussten, dass den „multiplen Identitäten“ des Komponisten nicht gerecht würde. Wagners letzte Oper, das Bühnenweihfestspiel  "Parsifal" etwa passe überhaupt nicht zur Naziideologie und Nazigrößen wie Goebbels und Heinrich Himmler hätten das Stück am liebsten verboten.

Meisterwerk der Kulturgeschichtsschreibung

Der New Yorker Autor ist ein Meister darin, Musikgeschichte zu kulturgeschichtlichen Aufarbeitungen zu verbreitern. Ross hat sich nach seinem Buch über die Musik des 20. Jahrhunderts „The Rest Is Noise“ nun der „Welt nach Wagner“ angenommen – wobei der Originaltitel „Wagnerism“ treffender ist. Es ist kein Buch über Richard Wagner, sondern über seine Verehrer vom französischen Dichter Charles Baudelaire über Thomas Mann und eben Adolf Hitler bis zu heutigen Hollywood-Regisseuren.

Ross gelingt auf 900 Seiten ein Epochenporträt der Moderne: eine Tour d’Horizon, die demonstriert, dass Wagner eben nicht nur Antisemit war, sondern auch Revolutionär, Anarchist, Sozialist, Christ, Liberaler und Mystiker. All diese Aspekte wurden von Wagnerianern aller Arten aufgegriffen. In Wagners Denken und Werk spiegelt sich das gesamte bürgerliche Zeitalter, jene Epoche des elitären Bürgertums, das 1789 das Feudalsystem der Aristokratie ablöste, bevor es nach 1914 in der Massenkultur aufging. Einer Zeit, als jene abgründig tiefen Sinn-Lücken kompensiert werden mussten, die das Verschwinden des religiösen Primats mit sich gebracht hatte. Das geschah unter anderem durch die Idee der Nation und der Volksseele und durch die Romantik mit ihrer Sehnsucht nach dem Alten, Verlorenen. Und eben durch die neuartigen Kunstreligionen, deren profiliertester Vertreter Richard Wagner wurde. Alex Ross spürt den internationalen Fährten des Wagnerismus nach, denn Wagner hat niemals „den Deutschen“ allein gehört. In den 1880ern, als Bayreuth noch wirklich ein Pilgerort gewesen ist, waren die Festspiele – ungeachtet von Wagners persönlichen Rassismen – ihrem Wesen nach völlig international.

Ausgerechnet im Spiegel seiner Rezipienten wird der Komponist auf 900 Seiten so lebendig wie in fast keinem anderen Buch. Dieses Meisterwerk der Kulturgeschichtsschreibung verweigert sich allen Klischees und Vereinfachungen, und lässt die Widersprüche und Besonderheiten von Richard Wagners Werk und Wirkung für sich sprechen.

Alex Ross. Die Welt nach Wagner. Rowohlt, 910 Seiten, 41,20 Euro.