Barenboim spielt Beethoven.“ Ein legendärer Zyklus, der auf Video festgehalten worden ist, hat Abertausende Zuseher an diese Musik herangeführt. Heute, Sonntag, in Graz gibt es bei einem Konzert für Menschenrechte des Musikvereins „Barenboim spielt Beethoven“ live. Der Pianist, seit Jahrzehnten auch ein Dirigent von Weltrang, ist aber auch ein Philanthrop und Politaktivist, der sich seit Langem für eine Aussöhnung zwischen Palästina und Israel starkmacht.

Herr Barenboim, Sie sind immer wieder bemüht gewesen, zwischen den Kulturen zu vermitteln. Es hat heute den Anschein, dass man lieber Brücken abreißt, als sie zu bauen. Wie empfinden Sie eine solche Entwicklung?
DANIEL BARENBOIM: Das stört mich schon, nicht wegen meiner Arbeit, sondern generell. Der Zustand der Menschheit ist nicht besonders gut, es gibt wenig Kooperation. Und es gibt derzeit eine Reihe von Regierungen, die wenig menschenfreundlich sind. Aber wissen Sie, in den 1930er-Jahren wurde der italienische Philosoph Antonio Gramsci gefragt, ob er Optimist oder Pessimist sei. Er meinte: „Intellektuell bin ich Pessimist, weil ich sehe, was auf der Welt passiert. Aber emotional muss ich Optimist bleiben, weil es ja weitergehen muss.“ So wie Gramsci empfinde ich es auch.

Die klassische Musik steckt voller humanistischer Ideale, sollten sich Musiker heute sozial und politisch stärker engagieren, um dies deutlicher zu machen?
Künstler sollten sich besser außerhalb ihres Fachs bilden. Wenn man jung und begabt ist, hat man Ambitionen. Man übt täglich viele Stunden und interessiert sich für nichts anderes. Man wird Spezialist, was nichts anderes heißt, als dass man sehr viel über einen sehr kleinen Bereich weiß. Aber Musiker zu sein, heißt nicht nur, die Fähigkeit zu haben, ein Instrument zu spielen. Es gibt dahinter eine humanistische Idee. Das verkümmert immer mehr.

Das klingt nach einer herausfordernden Sache.
Ja, man muss außerdem auf der einen Seite äußerst bescheiden gegenüber der Musik, gegenüber den Noten bleiben. Diese Bescheidenheit darf man aber auf keinen Fall auf die Bühne mitnehmen. Das würde überhaupt nicht funktionieren! Wenn ich auf die Bühne gehe, ist mir völlig bewusst, dass da Leute gekommen sind, um mich zu hören. Dieser Gedanke ist alles andere als bescheiden. Diese Mischung aus Selbstsicherheit und Bescheidenheit ist schwer zu balancieren. Weil ohne Ambition schafft es ein Musiker auch nicht. Aber die Ambition muss mindestens zehn Prozent geringer sein als die Begabung.
Wenn die Ambition größer ist als die Begabung, funktioniert die Kunst nicht.

Haben Sie lange gebraucht, um diese Mischung zu praktizieren, als Musiker bescheiden zu bleiben, aber zugleich Botschafter seiner selbst zu sein?
Ich habe mein erstes Konzert mit sieben Jahren gespielt, da hatte ich natürlich keine dieser Gedanken (lacht), aber ich hatte das Glück, schon sehr jung gemeinsam mit ganz großen Musikern zu musizieren. Bei allen wirklich großen Künstlern habe ich die Mischung gespürt.

Es ist ein Glück, solche Künstler kennenzulernen, aber ist es nicht auch eine Aufgabe der Universitäten, Künstler heranzubilden, die einen weiten Horizont haben?
Es gibt da ein zweifaches Problem. Zur Spezialisierung der Musiker kommt hinzu, dass es keine Musikerziehung an den Schulen mehr gibt. Man lernt etwas über Biologie und Mathematik, aber nicht, wie man zuhört. Leute erklären mir oft: „Aber es kommen doch Tausende, um zuzuhören.“ Aber Menge ist für mich kein Kriterium, sondern es geht darum, was diese Musik einzelnen Menschen bedeutet. Aber das klingt jetzt alles sehr pessimistisch, dabei freue ich mich doch so darauf, in Graz zu spielen!

Das ist ja nicht Ihr erster Klavierabend hier.
Genau, vor ein paar Jahren war ich in der Grazer Oper zu Gast, das habe ich sehr genossen.

Sie spielen in Graz Sonaten von Beethoven. Ein Komponist, mit dem Sie sich fast Ihr ganzes Leben auseinandergesetzt haben. Ändert sich Ihre Sicht auf seine Musik oder finden Sie da Dinge immer wieder aufs Neue?
Ein bisschen von beidem. Es ist ein Work in Progress. Wenn ich in Graz spiele, werde ich bestimmt einige Dinge völlig neu empfinden. Das passiert bei jeder neuen Aufführung, dass man Details zum ersten Mal registriert. Das heißt, ich werde am Montag ein bisschen mehr über die Musik wissen als am Sonntag. Andererseits muss ich immer wieder ganz von neu anfangen, weil der Klang ja nicht bleibt und immer im Moment erschaffen werden muss. Das ist das Schönste am Leben des Musikers: Immer mehr zu wissen, und dennoch immer bei null anfangen zu dürfen.

Sie haben mehrere Staatsbürgerschaften. Gibt es ein Land, mit dem Sie sich besonders verbunden fühlen?
Nein. Die argentinische habe ich, weil ich dort geboren bin. Die israelische, weil ich dort aufgewachsen bin. Die spanische, weil ich Europäer bin und die palästinensische, weil ich mich seit Jahren für die Sache engagiere. Diese Staatsbürgerschaft ist für mich eine sehr große Ehre.

Sie haben sich stark engagiert, um zwischen Israel und Palästina zu vermitteln. Haben Sie Verständnis für die Künstler, die zu einem Boykott Israels aufrufen?
Ich glaube, man muss unterscheiden: Vielen gefällt die Politik der israelischen Regierung nicht. Ich würde nie im Leben mit Institutionen zusammenarbeiten, die die israelische Regierung repräsentieren. Aber diese Boykottbewegung führt dazu, dass man überhaupt keinen Kontakt mit Israelis hat. Das finde ich auch nicht richtig: In Israel gibt es so viele Leute, die überhaupt nicht wie die Regierung denken. Und wenn es eine gemeinsame Zukunft geben soll, darf man den Kontakt zu regierungskritischen Personen nicht abreißen lassen.

Eine letzte Frage: Ihr Sohn Michael ist Violinist. Sind Sie manchmal neidisch darauf, dass er so großartig Geige spielt?
(Lacht laut auf) Wissen Sie, er wurde einmal gefragt, wie es sei, einen berühmten Vater als Musiker zu haben. Er hat geantwortet: „Ich weiß nicht, ich habe keine Vergleichsmöglichkeiten!“ Und so kann auch ich Ihre Frage beantworten.

Aber es muss Sie mit Stolz erfüllen!
Ja, das tut es. Und mit ihm in unserem gemeinsamen Klaviertrio zu spielen, ist derzeit meine größte Freude.