Ein kultureller Wandel wie ein Vulkan: #metoo verändert das Spiel der Kräfte in Politik, Wirtschaft, Medien und Kultur. Nächste Station: Klassik. Einzelne konkrete Vorwürfe, wie gegen Dirigent James Levine, und kollektive Appelle von Sängerinnen sind bisher laut geworden. In den Institutionen setzt man auf Sensibilisierung, wie eine APA-Rundfrage unter den heimischen Klassik-Betrieben ergab.

Gerüchte um Machtmissbrauch und sexuelle Gefälligkeiten, um die berüchtigte "Besetzungscouch" von Opernintendanten, Chorleitern oder Dirigenten, um Affären, über deren beidseitige Freiwilligkeit man angesichts klarer Abhängigkeiten nur mutmaßen konnte - davon gab es in der Welt der Oper immer schon reichlich. Aber wie in allen Bereichen, durch die die #metoo-Bewegung nun ihre Schneisen zieht, wusste man das Ausmaß des Themas bisher hinter geflügelten Worten, geschmacklosen Witzen und missgünstiger Gerüchteküche zu tarnen.

"Nicht genügend Finger"

"Ich habe nicht genügend Finger um zu zählen, wie oft ich entweder unangemessen sexuell bedrängt wurde, verbale Untergriffe oder sexistische Kommentare ignorieren musste", schreibt die US-amerikanische Mezzosopranistin Susanne Mentzer in der "Huffington Post". "Ich wette, dass fast jede meiner Freundinnen, die talentiert und schön, fleißig und ihrer Arbeit voll verschrieben sind, bereits belästigt wurden", so die Geigerin Hye Won Cecilia Lee, die auf ihrer Website eine Auswahl an #metoo-Tweets aus dem Klassikleben gesammelt hat.

US-Opernsänger Dan Kempson wiederum weist in einem Kommentar für das Online-Magazin "Medium" auch auf die Vulnerabilität junger Sänger hin, in einem Betrieb in der nicht wenige der mächtigen Männer homosexuell sind. "Es wird Zeit, dass die Opernwelt sich der eigenen Epidemie von sexueller Belästigung und Übergriffen stellt. (...). Es ist eine allgegenwärtige Kultur. Und jetzt ist es an der Zeit, zu kämpfen, aufzudecken und Veränderung zu schaffen."

Geringe weibliche Quote unter Maestros

Das wird freilich nicht einfach. Denn der Klassikbetrieb ist zumindest genauso von systemimmanentem Sexismus betroffen, wie viele andere Sektoren. Nicht zufällig hat man in den 1970er und 80er-Jahren begonnen, Vorspiele für Orchesterpositionen hinter einem Vorhang durchzuführen - eine US-Studie aus 1997 zeigt, dass der Frauenanteil in Orchestern dadurch um rund 50 Prozent gestiegen ist. Hinter dem Vorhang zu dirigieren funktioniert dagegen leider nicht - und so legt die weibliche Quote unter den Maestros auch heute nur langsam, wenn auch stetig, von verschwindendem auf geringes Niveau zu. Der russische Dirigent Vasily Petrenko sorgte erst 2013 für Aufsehen, weil er weibliche Dirigentinnen als "sexuelle Ablenkung" für Orchestermusiker bezeichnete - er betonte später, seine Aussagen seien aus dem Kontext gerissen worden.

Auch Opernregisseurinnen sind im Theaterbetrieb weitaus seltener am Werk als etwa die Kolleginnen aus dem Sprechtheater. So sieht sich eine Opernsängerin im Regelfall gleich mehreren männlichen künstlerischen Vormunden gegenüber - und das nicht selten in einer stark sexualisierten Frauenrolle als Kurtisane, Verführungsopfer oder Femme Fatale, wie sie in der Opernliteratur so reichhaltig vorkommen.

Das Aufkochen der öffentlichen Debatte greift bisher noch mit Vorsicht auf die sakralen Musiktempel über. Neben der New Yorker Metropolitan Opera, wo die Schockwellen rund um die Anschuldigungen von sexuellem Missbrauch durch Dirigent James Levine noch nicht zum Stillstand gekommen sind, sehen sich bisher vor allem die nordischen Staaten einem Aufschrei in der klassischen Musikindustrie gegenüber. In Schweden haben nicht weniger als 650 Sängerinnen ein Statement veröffentlicht, wonach sie sexuelles Fehlverhalten durch Männer in Machtpositionen erlebt haben.

"Das sind also fast 100 Prozent", sagte Sopranistin Agneta Eichenholz, ebenfalls Schwedin und bis vor kurzem als umjubelte "Lulu" an der Wiener Staatsoper zu sehen, in einem APA-Interview. Sie selbst habe ebenfalls mehrfach derartige Erfahrungen gemacht. "Man lernt als Frau also schnell, dass man sich nicht an den Chef wendet, sondern einen anderen Weg findet. Man vermeidet etwa, alleine im gleichen Raum mit einem mächtigen Mann zu sein."

Und wie in allen bekannt gewordenen Fällen lernen die Betroffenen auch schnell, zu schweigen, selbst unter Kolleginnen. "Ich selbst habe nie Derartiges erlebt und mich in der Illusion gewogen, dass es das nicht gibt. Jetzt sehe ich, dass man einfach nicht darüber gesprochen hat, sondern jede es allein verkraften musste. Und dass ich einfach sehr viel Glück gehabt habe", so die russische Sopranistin Olga Peretyatko im APA-Gespräch.

art but fair, jene 2013 gegründete Bewegung, die sich für faire Arbeitsbedingungen in der darstellenden Kunst und Musik starkmacht, zeigt sich in einem Statement anlässlich der Vorwürfe gegen Levine "leider nicht überrascht". In einer 2016 abgeschlossenen Studie habe etwa jeder dritte Künstler angegeben, von Machtmissbrauch und Willkür durch Vorgesetzte betroffen gewesen zu sein. 5,4 Prozent berichteten spezifisch von sexueller Belästigung.