Nach 18 Jahren auf dem Chefsessel musste Berlinale-Direktor Dieter Kosslick im Vorjahr unfreiwillig das Feld räumen. Als Nachfolger für das weltweit größte Publikumsfestival wurde eine Doppelspitze berufen: Der einstige Locarno-Chef Carlo Chatrian übernimmt die künstlerische Auswahl, die ehemalige Film-Lobbyistin Mariette Rissenbeek ist die neue kaufmännische Geschäftsführerin.

Welche Qualitäten sind die wichtigsten für den Berlinale-Chefsessel?

CARLO CHATRIAN: Neugierde gehört gewiss zu den wichtigsten Qualitäten, nicht nur für Berlinale-Direktoren, sondern für jeden Beruf und für das Leben ganz allgemein.

MARIETTE RISSENBEEK: Neugierde auf alle Fälle, zudem ist Vielseitigkeit gefragt. Neben dem Publikumsprogramm gehören zum Festival Branchenveranstaltungen.

Was, außer dem „Kulinarischen Kino“ und Anke Engelke, haben Sie vom Erbe Ihres Vorgängers entrümpelt? Was ist neu?

CHATRIAN: Die Menschen halten gerne Ausschau nach Revolutionärem, doch die meisten wirkungsvollen Revolutionen passieren im Stillen und ohne großes Feuerwerk. Als wichtige Neuerung wird es einen zweiten Wettbewerb geben. Wobei wir das großartige Erbe der Berlinale zum 70er ja nicht über Bord werfen.

RISSENBEEK: Neu ist der Wegfall der Kategorie „Außer Konkurrenz“, den wir als schwierigen Begriff empfanden. Stattdessen wird es die „Berlinale Special Galas“ geben für Filme, die nicht im Wettbewerb spielen, gleichwohl aber eine bestimmte Größe haben.


Wie feiern Sie das 70. Jubiläum?

CHATRIAN: Geplant ist eine Reihe mit dem Titel „On Transmission“. Dabei werden sieben Regisseure, die in der Vergangenheit Berlinale-Erfolge feierten, zum Festival zurückkehren und dazu je einen Filmemacher oder eine Filmemacherin ihrer Wahl mitbringen. Beide werden ihre Werke vorstellen und mit dem Publikum darüber reden.

Hat die Berlinale mit einer Frau in der Führungsposition ein Alleinstellungsmerkmal unter den 15 großen, sogenannten A-Festivals?

RISSENBEEK: Ich bin zum Glück nicht einzigartig. Locarno hat gerade als Nachfolge für Carlo eine neue künstlerische Leiterin bekommen, in Schanghai gibt es das bereits seit Längerem. Auch in Toronto ist die Doppelspitze weiblich und männlich besetzt.

Ihr Vorgänger hat in 18 Jahren ein umfangreiches Netzwerk aufgebaut. Hat er Ihnen die Handy-Nummer von Hollywoodstars wie Brad Pitt, Meryl Streep oder George Clooney überlassen?

CHATRIAN: Ich besitze bereits einige Handy-Nummern von Stars. Viel wichtiger sind allerdings die Telefonnummern der Agenten, letztlich treffen sie die Entscheidungen über die Pläne der Künstler.

„Fridays for Future“ bewegt die Welt – die Berlinale auch?

CHATRIAN: Kino handelt vom Zustand der Welt. Und wir zeigen Filme, die wichtige Themen aufgreifen. Aber das ist nicht das ausschlaggebende Kriterium unserer Auswahl. Der entscheidende Maßstab liegt darin, eine gute Geschichte filmisch gut zu erzählen. Diese Geschichte kann Anstöße geben und das Publikum zum Nachdenken anregen.

Ist die Weltpremiere-Exklusivität für den Wettbewerb zeitgemäß?

CHATRIAN: Die Regel für den Wettbewerb lautete schon bislang: internationale oder Weltpremiere. Entscheidend für mich ist allein die Qualität eines Films. Wenn er in seinem Ursprungsland im Kino oder auf einem Festival bereits gelaufen ist, habe ich kein Problem damit, ihn einzuladen. Ein Film für die Berlinale muss für unser Publikum frisch sein. Und noch wichtiger: Er muss gut sein.

Cannes blockiert Netflix im Wettbewerb. Venedig hat die Dämme geöffnet. In Toronto, Zürich oder London spielte das Thema schon gar keine Rolle mehr. Was macht Berlin?

RISSENBEEK: Für die Berlinale gilt wie bisher, dass ein Film im Wettbewerb eine Kinoauswertung benötigt. Außerhalb wird es Einzelentscheidungen geben.

Warum braucht es Filmfestivals?

CHATRIAN: Sie sind Treffpunkte, das ist ihre wichtigste Aufgabe. Menschen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen kommen zusammen. Künstler treffen das Publikum und die Presse. Die ganze Branche begegnet sich hier – das macht die Berlinale großartig.