Beinahe wäre das Unwetter vom Dienstag zum Spielverderber geworden: Der Schloßberg gesperrt. Die Kasematten nur über die Bahn zu erreichen. Die eingeschobene Voraufführung abgesagt. „Und wir wurden um Proben geprellt“, wie Intendantin Nora Schmid vorausschickte. Was man der letzten Saisonproduktion der Oper Graz allerdings überhaupt nicht anmerkt.

Astor Piazzolla nannte „María de Buenos Aires“ zwar eine „Operita“ („kleine Oper“). Aber hier sind die 16 Szenen ohne durchgehende Handlung aufwendig umgesetzt. In dem einzigen Bühnenwerk des Bandoneon-Königs, komponiert 1968, schildert das symbolreiche Libretto seines Künstlerfreundes Horacio Ferrer die Odyssee einer Frau in den Elendsvierteln der argentinischen Hauptstadt – als Kind und Tänzerin, als Heilige und Hure, als sonnige Träumerin und nach ihrem Tod als Schatten in der Unterwelt.

Ich bin María ... María Tango, María der Vorstadt, María Nacht, María fatale Leidenschaft, María der Liebe zu Buenos Aires bin ich...!“
Diese Frau erlebt eine Passionsgeschichte, die Rainer Vierlinger so stimmig wie tiefgängig umsetzt. Der Wiener Regisseur arrangiert mit Cornelia Leban-Ibrakovic und Adi Lovancic Chor und Bewegungschor zu illustren Straßenszenen und bietet in ganz mit und in der Musik inszenierten Aufzügen und Tableaus auch enormen Schauwert. Speziell im zweiten Teil, wo Marías Gang in die Hölle zu einem Albtraum zwischen surrealer Messe, Brueghels Höllenbildern und einer Tango Horror Picture Show wird.

Vibeke Andersen lässt die Kasematten ungewohnt, aber geschickt in der Breite bespielen. Ihre Bühne dominiert ein Riesenherz, das in einer Danse macabre zu Piazzollas herzzerreißender Musik von Fleischhauern ausgeblutet, filetiert und sogar mit einem Bratenthermometer getestet wird – María, ein gefundenes Fressen für Männer, Machos und Matrosen.
Anna Brull gibt der Naiven, die durch das Leben mäandert, starkes Profil. Die Katalanin kostet Piazzollas seufzerische Melodien aus, führt ihren Mezzo zwischendurch aber auch, als ob sie mit Ginebra gegurgelt hätte, und lässt in den Abgrund einer in den Wahnsinn Getriebenen schauen. Der Madrilene Ciro Gael Miró findet als kommentierender „Geist“ für seine Erzählungen über María einen wunderbaren Ton, sodass die fehlenden Übertitel gerade bei ihm nicht stören. Und der serbische Tenor Ivan Ore(s)(c)anin überzeugt als melancholischer „Sänger“ ebenso wie als teuflischer Psychoanalytiker, der der Stiefbruder von Hannibal Lecter sein könnte.

Die Grazer Philharmoniker sind mit E-Gitarre und Bandoneon ja eher selten besetzt. Hanspeter Kapun und Martin Vescelovicz fügen sich bestens in das „Operita Orquestra“, das von der Seite, halb von Plexiglaswänden verdeckt, auch über Boxen zu hören ist und mit technischer Meisterleistung nahezu bruchlos Kontakt hält zu den mit Mikroports ausgestatteten, zwischendurch fast 30 Meter entfernten Vokalsolisten. Marcus Merkel am Pult und sein Kammerensemble verbreiten erfrischenden Südamerika-Flair, da und dort hätte Piazzollas unnachahmlicher Mix aus Milonga, Jazz, Barmusik und Klassikelementen wie Toccata und Fuge aber ruhig noch ein bisschen „dreckiger“ sein können.

Trauriger Gedanke

Astor Piazzolla wurde 1921 in Mar del Plata geboren. Mit seinen argentinisch-italienischen Eltern lebte er eine Zeit lang in New York, wo er neben Klavier seinem Vater zuliebe auch Bandoneon lernte. Der in Deutschland entwickelte „Bruder“ des Akkordeons war im frühen 20. Jahrhunderts als Tango-Instrument populär geworden. Piazzolla trug später wesentlich dazu bei. Er gründete in seiner Heimat zunächst klassische Orquestras und entwickelte danach mit seinem Quintett die Melange aus europäischen, südamerikanischen und afrikanischen Musikstilen zum Tango Nuevo weiter – anfangs dafür schwer angefeindet, sodass sich seine Familie kaum auf die Straße traute, bald aber bejubelt als König des Genres, dessen Tod 1992 die ganze Nation beweinte.

„María de Buenos Aires“ ist eine poetische Erzählung, die besonders verstehen lässt, dass (nicht nur) für die Argentinier der Tango „der traurige Gedanke ist, den man tanzt“. Sie fand viele engagierte Botschafter wie den Geiger Gidon Kremer oder die Sängerin Milva. Im Jahr 2000 erlebte die „Operita“ bei den Bregenzer Festspielen ihre erste szenische Aufführung in Österreich, in Graz brachte sie „folksmilch“ im Vorjahr konzertant auf die Bühne.

König des Tangos und des Bandoneons: Astor  Piazzolla  (1921–1992)
König des Tangos und des Bandoneons: Astor Piazzolla (1921–1992) © KK