Als „Zerrbild der Gerechtigkeit“ hat der Zeitzeuge und Nazi-Fahnder Simon Wiesenthal die Vorgänge beim Grazer Prozess gegen den steirischen NS-Täter Franz Murer im Jahr 1963 beschrieben. Wie soll man es auch sonst nennen, dass der „Schlächter von Wilna“, mitverantwortlich an der Ermordung Tausender Juden, in dem Verfahren trotz erdrückender Beweislast freigesprochen wurde? Das Unfassbare an diesem vielleicht größten Justizskandal der Zweiten Republik (siehe auch Seite 4/5): Er war auch einer der verdrängtesten, jahrzehntelang ad acta gelegt.

Doch im Gedenkjahr 2018 fällt neues Licht in den Fall Murer: durch Johannes Sachslehners unlängst erschienenes Buch „Rosen für den Mörder“ (Molden) einerseits. Und nun durch Christian Froschs Film „Murer – Anatomie eines Prozesses“. Er eröffnet heute die Diagonale, das Festival des österreichischen Films in Graz. Zeit und Schauplatz könnten besser nicht gewählt sein, um dem Film und seinem Thema größtmögliche Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen.

Denn das Festival, stellten die Intendanten Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber jüngst im Gespräch mit der Kleinen Zeitung fest, diene auch der „Befragung der österreichischen Kultur im Umgang mit der Vergangenheit, im Umgang mit den nationalen Narrativen“. Ein Ansatz, der die Bedeutung der Diagonale weit über die ursprünglich konzipierte Leistungsschau des heimischen Filmschaffens hinaushebt – weil sie die differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit dem heimischen Kino auch als differenzierte und kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und Politik dieses Landes denkt.

Sechs Tage lang dauert die Diagonale. Gezeigt werden 167 Spiel-, Dokumentar-, Kurz- und Experimentalfilme in 142 Vorstellungen, für den Wettbewerb des Festivals wurden aus rund 500 Einreichungen 103 Filme ausgewählt. Zu sehen sind dabei bis Sonntag Ur- und Erstaufführungen neuer Kinofilme etwa von Katharina Mückstein („L’animale“), Lukas Feigelfeld („Hagazussa“), Nikolaus Geyrhalter („Die bauliche Maßnahme“). Aber auch Filme, die es üblicherweise nicht in den herkömmlichen Kinobetrieb schaffen. Das Sperrige, Querköpfige, Kompromisslose, manchmal auch das bloß Genreuntypische oder Formatsprengende: Es braucht Festivals wie die Diagonale.

Christian Froschs „Murer – Anatomie eines Prozesses“ mit Karl Fischer, Karl Markovics, Inge Maux läuft nach der Eröffnung heute noch diese Woche regulär im Kino an. Dem Film sind möglichst viele Besucher zu wünschen. Basierend auf den Prozessakten von damals und streng im Stil eines klassischen Gerichtssaalthrillers beschreibt der Film, wie im Verfahren „bewusst gelogen, verschleiert, verbogen und gesteuert“ wurde, sagt Frosch. Selten war eine Lektion in österreichischer Geschichte so eindringlich. Oder so erschütternd.
www.diagonale.at