"Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, schrieb Theodor W. Adorno. Eines der berühmtesten Zitate des deutschen Philosophen lässt sich vielfältig deuten. Vielleicht auch so: Wir sind immer selbstverantwortlich für unser Tun, aber unsere Eigenbestimmung ist nie losgelöst von unabsehbarer Fremdbestimmung.

Von diesen Abhängigkeiten erzählt auch Norbert Gstrein in „Die kommenden Jahre“. Hier der Hamburger Gletscherforscher Richard, der als „Wächter der gefrorenen Riesen“ von Kanada träumt. Da Natascha, die ihm vorwirft, ein „Eismann“ zu sein, „der in seinem eigenen Frost erstarrt ist“, die Ehe aber auf ihre Art selbst auseinanderdriften lässt. Und dazwischen? Ein klaffendes Loch, das die Zeit gerissen hat. Und mit einem Mal auch eine syrische Familie, weil die Schriftstellerin den Kriegsflüchtlingen ihr Ferienhaus an einem Mecklenburger See als Obdach anbietet. Aber für Bassam Farhi, seine Frau und die zwei Buben wird die Oase bald zum Käfig. Gefangen von überbordendem Helfersyndrom Nataschas und dem von ihr noch befeuerten (scheinbaren) Medieninteresse am Schicksal ihrer Gäste. Bedrängt von unterschwelligen Bedrohungen der Nachbarn, von auftauchenden Gerüchten, der Familienvater sei nicht wie angegeben ein Bauingenieur, sondern vielmehr ein regimefreundlicher Oberst der syrischen Armee. Und dann sogar von einer Entführung...

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„So viele zerschellte Träume“, muss Richard im Mail der Mexikanerin Idea lesen, die (nicht nur) eine Glaziologie-Kollegin ist. Norbert Gstrein verwebt die Flüchtlingskrise feinnervig mit Möglichkeits- und Wirklichkeitsformen einer Zukunft, denen sich jeder stellen muss, der - vielleicht auch vor sich selbst - auf der Flucht ist. Der 56-jährige Tiroler, der seit seiner entlarvenden Heimatkunde „Einer“ (1988) zu den großen Menschenforschern unter den Schriftstellern zählt, ist auch im neuen Roman ein klarsichtiger Sprachkomponist. Seine Melodie der Versäumnisse lässt er hier auf ein dramatisches Ende zulaufen. Nein, auf drei Enden, die wie viele seiner Texte in Zwischentönen fragen: Führen wir ein Leben? Oder führt das Leben uns?