Blubo. Dieses Kürzel verwendeten die wenigen noch widerstandsbereit gebliebenen Literaten. Europa lag damals schon in Schutt und Asche, das infernalische Tausendjährige Reich steuerte auf sein Ende zu. Dennoch übersäten Wortmetze die Literaturlandschaft mit grauenhaftem Blut-und-Boden-Geschwafel und an Durchhalteparolen reichen Schollenschwarten. Die Schatten reichen bis in die Gegenwart. Und mit ihnen die ideologisch abartigen Denkweisen.

Es ist dieses leise, aber beklemmende Hintergrundrauschen, das sich bei der Lektüre von Arno Geigers neuem Roman-Monument „Unter der Drachenwand“ einstellt. Trotz oder gerade wegen des völlig konträren Inhalts. Diese Geschichte habe ihn gefunden, vor rund zehn Jahren schon, sagt der Autor, der nun das Ergebnis dieses Zueinanderfindens präsentiert. Geformt, verdichtet, emotional intensiviert zu einem, dies lässt sich schon jetzt unschwer vorhersagen, der wichtigsten und ausstrahlungsstärksten Romane dieses Jahres.

Mittendrin

Zum Verständnis des Werkes reicht ein einziger weiterer Satz von Arno Geiger über die Entstehungsgeschichte des Buches: „Mir kommt vor, dass unsere Vorstellung von dem, was Krieg ist, sehr abstrakt geworden ist, ich wollte näher damit in Berührung kommen.“ Eine Untertreibung, mit Verlaub.

Denn eine Nähe gibt es bei diesem in vielerlei Hinsicht herausragenden Dichter nicht. Stets wechselt und steigert sie sich in ein Mittendrin – in der Handlung, den Ereignissen, in den Figuren, die sich schon nach wenigen Sätzen in markante Lebewesen verwandeln. Von Autorenhand geformt, der Wirklichkeit entlehnt.

Schauplatz Mondsee

Hauptschauplatz von „Unter der Drachenwand“ ist das Städtchen Mondsee im Salzkammergut, wo der gleichnamige Berg schroff und verlockend zugleich in den Himmel ragt. Dorthin verschlägt es 1944 den 24 Jahre jungen Soldaten Veit Kolbe nach einer Verwundung beim Fronteinsatz in Russland. „So hatte mich der Krieg auch diesmal nur zur Seite geschleudert“, lautet einer der ersten, lapidaren Sätze des Romans, der sich mehrheitlich als Tagebuch des Protagonisten erweist.
Dem großen Grauen ist dieser Veit, dem die Jugendjahre gestohlen wurden, in dieser vergleichsweise noch einigermaßen intakten Region durch seine verletzungsbedingte Auszeit entkommen, dem erlebten Horror und den Albträumen nicht.

Innenwelt-Forscher

Faszinierend ist erneut Arno Geigers thematische und sprachliche Wandlungsfähigkeit. Mit Heldentum hat er nichts im Sinn. All seine geniale Beobachtungsgabe gilt den Durchschnittsmenschen, deren Wesenszüge er, einem Innenwelt-Forscher gleich, Schicht für Schicht freilegt. Nicht mit großen Erkenntnissen gehen Geigers Geschöpfe schwanger, aber sie bringen wunderbare, feinsinnige und ironische Einsichten hervor. Etwa diese: „Der Mantel ist die Kleidung des Übergangs, die Mütze verbindet die Welten.“ So viel zum Thema Kälte und Seelenfrost.

Der 49-Jährige schuf einen mit enormer Präzision und Einfühlungsgabe geformten Bau aus Worten, in dem ein ganzes Barbaren-Reich Unterkunft gefunden hat, verkörpert durch Opportunisten wie Veits Vater, stumpfe Mitläufer, Endsieg-Gläubige und einige Wenige, die Resthoffnungen hegen. Wissend, dass die Ewigkeit Zeit hat, aber das Leben nur eine kurze Spanne währt.

Kristallklare Sprache

Sie alle leben uns ihr Dasein vor, in dessen Enge ein Übermaß an Elend und Dummheit Platz hat – aber auch die erste große Liebe. Reich ist die Akustik und der Nachhall der Gedanken in diesem Sprach-Bau, kristallklar die Sprache als Gegenpol zur braunen Suppe, beklemmend sind die eingestreuten Briefe, etwa von einer jüdischen Familie, die allzu lange nicht wahrhaben will, was längst zur schauderhaften Wahrheit wurde. Nie wird angeklagt; der schlichte Ton ist es, der ein vernichtendes Urteil spricht. Ein großartiges Meisterwerk über Liebe, Macht und Ohnmacht, im Himmel, ganz oben, im Schlamm, ganz unten, zugleich.

Arno Geiger: "Unter der Drachenwand". Hanser-Verlag, 480 Seiten, 26,80 Euro.