Wenn Sie jetzt behaupten würden, eine direkte Nachfahrin von Baron Münchhausen zu sein, würden Sie glatt lügen, nicht wahr?
ANNA VON MÜNCHHAUSEN: Stimmt, direkte Nachfahren von Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen gibt es nicht, denn seine Frau und er hatten keine Kinder. Mit ihm näher verwandt sind heute nur die Nachfahren seiner verheirateten Schwestern.

Wie lustig oder besser unlustig ist es, mit dem Namen Münchhausen durch das Leben zu gehen?
MÜNCHHAUSEN: Mitunter habe ich als Journalistin erleben müssen, dass mir unterstellt wurde, in meinen Beiträgen Unwahrheiten zu verbreiten, das war natürlich weniger lustig. Und ich erinnere mich noch gut daran, dass ich als Schülerin ein Herbarium mit Heilpflanzen anlegen musste, war allerdings spät dran und schlampte ein bisschen. Als mir das Heft zurückgegeben wurde, funkelte der Lehrer mich ziemlich böse an mit den Worten: „Da hat sich unsere Lügenbaronesse wohl etwas von ihrem Vorfahren abgeschaut.“ Ich hatte unter die Heilpflanzen einige Giftpflanzen gemogelt.

Ihr „fantastischer Vorfahr“ wurde vor 300 Jahren, am 11. Mai 1720, in Bodenwerder an der Weser (Niedersachsen) geboren. Ihr Buch über ihn ist auch eine „Ehrenrettung“. Welche Ehre galt es denn zu retten?
MÜNCHHAUSEN: Das Etikett „Lügenbaron“ ist in unserer Familie nicht beliebt. Denn gelogen hat Hieronymus nicht mit seinen Abenteuerzählungen – er wollte damit keinesfalls die Wahrheit manipulieren, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Das ist ja gemeinhin, was man unter Lügen versteht. Hieronymus hat eigene Erlebnisse ausgeschmückt, er hat fabuliert, er hat mit fantastisch erweiterten Berichten vor allem und in erster Linie unterhalten wollen. Nebenher hat er durch seine wüsten Übertreibungen aber auch Prahler und Angeber bloßstellen wollen, deren Renommiergehabe er lächerlich fand.

Die Journalistin Anna von Münchhausen schrieb ein Buch über ihren berühmten Vorfahren
Die Journalistin Anna von Münchhausen schrieb ein Buch über ihren berühmten Vorfahren © Die Zeit

Der historische Münchhausen führte ein turbulentes Leben, nahm am Russisch-Türkischen Krieg teil, verkehrte am Hof des Zaren und wusste davon, wieder daheim, allerlei abenteuerliche Geschichten zu erzählen. Er war also ein begabter und begeisterter Fabulierer, wie kam es denn nun zum Titel „Lügenbaron“?
MÜNCHHAUSEN: Nachdem seine Frau Jakobine gestorben war, hat Hieronymus im hohen Alter eine sehr viel jüngere, sehr lebenslustige Frau geheiratet: Bernhardine von Brunn. Diese Ehe war von Anfang an ein Desaster. Als Hieronymus die Scheidung einreichte, hat Bernhardine geschickte Rechtsanwälte gefunden, die den Herrn Baron mit Schriftsätzen bombardierten. In denen hieß es, jedermann wisse, dass Hieronymus Münchhausen unwahre tolle Geschichten erzähle, er sei eben ein echter „Lügenbaron“. Damit war ein Begriff in der Welt, der sich nie wieder einholen ließ.

Sie schreiben: „Münchhausen hat seine Erlebnisse mithilfe seiner grenzenlosen Fantasie angereichert, sodass Wahrheit und Fiktion verschwimmen, untrennbar, unauflöslich werden, bis der ursprüngliche Sachverhalt nicht mehr zu erkennen ist.“ Aber sind wir da nicht mitten in der Lüge, im Land der „Fake News“?
MÜNCHHAUSEN: Wenn wir heute über Fake News diskutieren, ist damit doch gemeint, dass politische Wirrköpfe mit erfundenen oder manipulierten Fakten Politik und Stimmung zu machen versuchen. Das trifft auf Hieronymus in keiner Weise zu. Ein politischer Kopf war er nicht, allenfalls in dem Sinn, dass er hin und wieder auch Potentaten, gekrönte Häupter oder Befehlshaber ein bisschen auf die Schippe genommen hat.

Der Ritt auf der Kanonenkugel, das halbierte Pferd, die Bohnenranke zum Mond. Woher kommen denn all diese Geschichten, die längst zum erzählerischen Volksgut gehören?
MÜNCHHAUSEN: Es gibt in den Abenteuer-Erzählungen eine Vielzahl von literarischen Motiven, die uralt sind. Einige gehen auf mittelalterliche Schwänke zurück, andere auf den sehr produktiven antiken Satiriker Lukian von Samosata. So ist etwa auch die Sache mit dem halbierten Pferd schon lange vor Münchhausen erzählt worden.

Autoren wie Rudolf Erich Raspe und Gottfried August Bürger haben die „aufgeschnappten“ Geschichten Münchhausens ergänzt, verfälscht, ausgeweitet und schließlich ab circa 1785 veröffentlicht. Wie hat denn der Freiherr darauf reagiert?
MÜNCHHAUSEN: Als er davon erfuhr, war Hieronymus Münchhausen empört. Für ihn war das eine klare Ehrverletzung: Jemand bemächtigt sich seines Namens und verbreitet unglaubliche Geschichten. Da die Bücher ja anonym geschrieben waren, wusste Münchhausen nicht einmal, wer dahintersteckte.

Sogar für eine Krankheit muss Ihr Vorfahre herhalten, das „Münchhausen-Syndrom“. Warum denn das?
MÜNCHHAUSEN: Beschrieben hat diese Persönlichkeitsstörung als Erster der britische Internist Sir Richard Asher. Diese Patienten erfinden körperliche Symptome und führen damit ihre Ärzte in die Irre. Sie lassen sämtliche diagnostische Verfahren über sich ergehen, die allesamt ergebnislos enden, da es keine organischen Ursachen der Beschwerden gibt. Diesen Menschen kommt es darauf an, die Aufmerksamkeit der Mediziner zu fesseln. Sie haben keinen Leidensdruck, wollen auch nicht geheilt werden, denn dann hört ihnen ja niemand mehr zu. Ich finde, Sir Asher hätte sich jemand anders hernehmen sollen, um diese Krankheit zu benennen, wir sind doch nicht persönlichkeitsgestört!

Wie muss man sich den Menschen Münchhausen vorstellen?
MÜNCHHAUSEN: Ich glaube, dass er ursprünglich ein charmanter, witziger Zeitgenosse war, im guten Sinn neugierig und aufgeschlossen. Später wurde er etwas knorriger.

Wer ist denn für Sie persönlich der derzeit größte Lügenbaron der Weltgeschichte?
MÜNCHHAUSEN: Mir fielen da einige Namen ein, aber dabei handelt es sich schlicht um Lügner, nicht um Barone.

Wie werden Sie denn den 300. Geburtstag Ihres berühmten Vorfahren begehen?
MÜNCHHAUSEN: Wir wollten ja Hieronymus groß feiern, diesen Plan hat aber das dumme Virus durchkreuzt. Jetzt werde ich an diesem Tag mit meinem Mann einen Crémant trinken. Dabei werden wir nicht nur auf Hieronymus anstoßen, sondern auch auf unseren Sohn, der ebenfalls am 11. Mai Geburtstag hat.

Anna von Münchhausen: Der Lügenbaron. Mein fantastischer Vorfahr und ich. Kindler. 128 Seiten, 15,50 Euro.
Anna von Münchhausen: Der Lügenbaron. Mein fantastischer Vorfahr und ich. Kindler. 128 Seiten, 15,50 Euro. © KK