"Und ich? Ich befinde mich mittendrin und bin nichts weiter als die Berichterstatterin meiner Gegenwart. Das frische Blut in meinen Adern sei der rote Faden in meinen Geschichten und die Röte in eurem Gesicht. Mehr als ums Überleben, die Welkwehmut und den Existierzorn geht es nicht.“

Bereits auf Seite 35 legt Helena Adler in ihrem neuen Roman „fretten“ einen literarischen Offenbarungseid ab und lässt keinen Zweifel daran offen, warum es im Folgenden gehen wird. Ums „fretten“ nämlich, und was dieses Wort bedeutet, wird gleich eingangs erklärt:

„fret/ten (süddeutsch/österreichisch): sich abmühen, sich plagen, mühsam über die Runden kommen, sich aufreiben, sich wund reiben.“

Mit „Die Infantin trägt den Scheitel links“ lieferte die Salzburger Schriftstellerin 2020 ein hochgelobtes Debüt ab, jetzt liegt die Fortsetzung vor, die aber auch als eine Art Wieder- bzw. Neuerzählung gelesen werden kann. Wie bereits im ersten Teil ist auch „fretten“ in 21 Kapitel gegliedert, die die Namen von Gemälden tragen. Das reicht von „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (Salvadore Dalí) über „Der Ursprung der Welt“ (Gustave Courbet) bis zur „Madonna mit Kind“ (Guercino).

Ein Kind bekommt später in diesem Roman auch die Infantin. Doch vorher noch muss einmal mehr die Heimat, die Enge, die Provinz, die Familie wortgewaltig weggesprengt werden, all der Lebensmüll und -schutt beseitigt, die Jugendjahre mit Gift und Galle bespuckt, kurz: All die Wunden müssen mit spitzer Sprachzunge geleckt werden, nur der Wortfuror kann verhindern, dass das Wundreiben zu noch schlimmeren Verletzungen führt; „fretten“ ist Satz für Satz Weltaneignung und Weltbewältigung.

Gerne wird Helena Adler mit Thomas Bernhard, dem großen Auslöscher, verglichen und als „schwarze Fee“ bezeichnet. Zumindest Zweiteres ist nachvollziehbar, denn trotz der rabiaten, tobenden, schäumenden Realitätsbeschreibung wohnt dem Mahlstrom dieser Erzählweise etwas Märchenhaftes inne, ein sehnsüchtiges, fast verschämtes „Und wenn sie nicht gestorben sind“.

Natürlich ist „fretten“ auch ein Entwicklungs- und vor allem Verwicklungsroman, in dem die Infantin wortreich die Sprachlosigkeit der Kindheit hinter sich lässt, um in die Perspektivenlosigkeit der Pubertät einzutauchen und von dort aus die Hoffnungslosigkeit des Erwachsenenlebens unter Beschuss zu nehmen. Mitunter schießt Adler dabei übers Ziel hinaus, und als Lesender droht man immer wieder in der Alliterationen-Flut unterzugehen.

Dennoch ist dieser Roman ein großer Triumph; eine Selbstermächtigung mittels Sprachbemächtigung, ein Sieg der Literatur über das Lebensleid. „Mein Milieu ist ein Malheur. Und mein Überleben ein waghalsiges Manöver“, schreibt Helena Adler. Das „fretten“ hat sich gelohnt, das Manöver ist gelungen.

© KK

Buchtipp: Helena Adler. fretten. Jung und Jung, 178 Seiten, 23 Euro.