Die großen düsteren Themen des Eröffnungsfilms „White Noise“ setzen sich am zweiten Festivaltag fort – mit fiktiven Biografien vor realem Hintergrund. „Bardo“ ist Alejandro G. Iñárritus erster mexikanischer Film seit seinem Kinodebüt „Amores Perros“. Nach fünf internationalen Filmen hat sich der Oscargewinner eine persönliche Geschichte vorgenommen, geht es doch um einen gefeierten Filmemacher mittleren Alters, der auf Besuch in seiner Heimat ist.
Auch wenn Protagonist Silverio Journalist und Dokumentarist ist: Die Lebensbilanz an einem Höhepunkt, das Hadern mit dem Leben als Emigrant samt politischer Identitätskrise, kritische Haltung zur alten Heimat und die männliche Rolle innerhalb der Familie, das alles ist sehr ehrlich erzählt. Ob der Streaming-Konzern Netflix nach Alfonso Cuaróns „Roma“ 2018 mit „Bardo“ wieder den Goldenen Löwen holen wird, bleibt offen. Der Film ist eine opulente Reminiszenz; mit großem Budget und vielen Statisten. Teils wirkt die Erzählung ausgebreitet, dann fasst Iñárritu die Szenen in die verspielte Sprache des magischen Realismus, in visuell beeindruckende Weitwinkel-Einstellungen mit übersteigerten CGI-Effekten.

Im Wettbewerbsfilm „Tár“ geht es um eine Biografie – mit einer berühmten Darstellerin. Wenn nicht Cate Blanchett, dann niemand. Das war die Auflage für Regisseur Todd Fields, der darin von der ersten (fiktiven) weiblichen Chefdirigentin eines Berliner Orchesters erzählt. Und der Star kam, sah und siegte. Es ist eine intime, aber stets leidenschaftliche Performance, die Blanchett an den Tag legt.
Ihre Figur, Lydia Tár, gilt als eine der Großen ihrer Zunft, hat mit der Deutschen Grammophon aufgenommen und die wichtigsten Orchester der Welt dirigiert. Doch wer so hoch ins Firmament steigt, dem droht auch wie Ikarus einst bald der Absturz. So beginnt sie und ihre Assistentin Francesca (Noémie Merlant) der Tod einer ehemaligen Stipendiatin zu verfolgen, an dessen psychischen Zusammenbruch Lydia nicht ganz unschuldig scheint. Auch mit Lebensgefährtin Sharon (Nina Hoss) beginnt es langsam zu kriseln, da sie sich nie vollends auf die Beziehung einlassen kann.

Todds Film gelingt nicht nur mit der Besetzung Blanchetts ein Glanzstück, auch seine auf Hochglanz polierte Auseinandersetzung mit Ruhm, Ego, Konkurrenzkampf und Business ist pointiert geschrieben und spannend umgesetzt. Das Skript scheut nicht davor, mit Sprache und Stil in den Jargon der Musikwelt einzutauchen. „Tár“ ist ein klug aufgebautes Porträt einer Frau, deren Gotteskomplex ihr langsam symbolisch wie tatsächlich die sorgfältig geplante Partitur ihres Lebens entgleiten lässt.

Mit „Vera“ feierte der österreichische Beitrag von Tizza Covi und Rainer Frimmel im Wettbewerb der Sektion Orizzonti seine Premiere. Das Regie-Duo bleibt seinem vielfach prämierten, semi-dokumentarischen Konzept treu, Bücher und Figuren aus der Begegnung mit ihren Protagonisten heraus zu entwickeln. Im Fokus: Vera Gemma, Tochter des berühmten Italo-Darstellers Giuliano Gemma. Die Einsamkeit der ewigen Tochter wird jäh unterbrochen, als ihr Fahrer einen Unfall mit einem kleinen Jungen verursacht. Für die gute Seele bringt der Ausflug in die unglamourös-echte Welt des römischen Prekariats auch Probleme. Ehrliche Geschichte um Klassenzugehörigkeit und enttäuschende Oberflächlichkeiten, mit einer sympathischen Titelfigur.