Die Erwartungen vor der Premiere waren hoch. Schließlich handelt es sich bei dem in Kärnten geborenen und in der Steiermark lebenden Komponisten Gerd Kühr und seinem Librettisten Hans-Ulrich Treichel um zwei renommierte Künstlerpersönlichkeiten. Dazu Ulf Schirmer als Dirigent, Generalmusikdirektor und Chefdirigent der Oper Leipzig und eine Inszenierung von Barbora Horáková Joly, die übrigens Finalistin des Ring Awards in Graz war und bei den International Opera Awards 2018 als beste Newcomerin ausgezeichnet wurde. Auch Bariton Mathias Hausmann (in der Hauptrolle als Albert) hat sich als Sänger längst einen Namen gemacht. Dass diese günstige Konstellation aber zu einem wirklich stimmigen Opernabend wurde, ist Ergebnis intensiver, von Toleranz und Verständnis füreinander getragener Zusammenarbeit.

Die Oper „Paradiese“, ein Kompositionsauftrag der Oper Leipzig, erzählt die Initiationsgeschichte eines ­jungen Mannes, Albert, vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Geschichte in Berlin. Vier Situationen sind mit der Begegnung Alberts mit vier Frauen verknüpft. Mit einem mitreißenden Sprach-Staccato aus Sprechchören und Parolen der studentischen Unruhen 1968 beginnt die Oper. Und schon in dieser originelle „Ouvertüre“ zeigt sich eine Qualität, die sich durch die ganze Oper zieht: der komplexe Rhythmus dieses Auftakts klingt ganz natürlich. Bei Kühr wird das Kunstvolle nie künstlich, nie manieriert. Kührs Komposition ist ungemein farbig, facettenreich und vielschichtig. Teilweise sehr effektvoll – mit wunderbaren Soli – ohne effekthascherisch zu sein, dabei transparent und subtil, manchmal zupackend, manchmal filigran. Das Gewandhausorchester wird – geleitet von Ulf Schirmer – seinem legendären Ruf gerecht und musiziert mit Engagement und Leidenschaft.

Treichels Text ist klug; dabei in einem natürlichen und verständlichen Sprachduktus. Manchmal der Alltagssprache entlehnt, dann wieder sehr lyrisch. Und immer wieder ironisch gebrochen („In Freiburg kann man auch Politologie studieren. Warum Westberlin?“) Opernhaftes Pathos fehlt hier ebenso wie in der Musik. Neben der realen Erzählung aus Alberts Leben gibt es in jedem Akt eine zweite Ebene: in der psychiatrischen Sitzung erlebt Albert quälende Erinnerungen oder im Lachgasrausch (bei Zahnärztin Friederike) eine Fantasiereise auf die Pfaueninsel.

Das Bühnenbild, weder allzu trivial, noch allzu kryptisch, charakterisiert treffend Situation, Zeit, Ort und Stimmung und Horáková Jolys Inszenierung unterstützt Musik und Text ideal mit der Darstellung von Menschen, an deren Schicksal man unmittelbar teilnimmt und mit denen man sich identifizieren kann. Insgesamt ist „Paradiese“ ein sinnlicher Genuss, der auch einem Bedürfnis nach Unterhaltung und Anregung gerecht wird. Einer Anregung zum Denken, Fühlen und Reflektieren.

Mathias Hausmann wird als Albert seiner Monsteraufgabe souverän und beeindruckend gerecht. Alina Adamski ist eine mädchenhaft, aufgedrehte Lise, die mit „Du und ich. Wir lieben uns doch“ das wohl schrägste Liebesduett der Operngeschichte hat. Der enttäuschte Albert hat nämlich gerade ein Messer gezückt während Lise mit seinem Rivalen verschwindet. Julia Sophie Wagner gibt eine laszive, lockende Friederike und verstört mit der blutigen Szene, in der sie sich selbst ein paar Zähne zieht. Dass Christiane Döcker bis zur Premiere indisponiert war, verursachte zwar Stress bei den Künstlern, war aber absolut nicht zu bemerken. Ihre Marie war ebenso gesanglich sicher und packend wie die  Rollengestaltung der drei Sopran-Kolleginnen. Im vierten Akt hat Albert mit Anna (Magdalena Hinterdobler) ein kleinbürgerliches Glück gefunden. Sie wird aber von Wahnvorstellungen gequält: Ein Bakchenschwarm (aus der Theaterszene im 3. Akt) und eine Studentendemo (das Personal aus dem 1. Akt) marschiert durch die Küche. Sie ängstigt sich, ob wohl noch andere Leute kämen. „Und wenn schon! Die tun uns nichts. Na dann!“ ist der köstliche, Schlusssatz der Oper. Das witzige, lapidare Ende war übrigens ein ausdrücklicher Wunsch des Komponisten. Nur kein Pathos!

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