In einem sehr bemerkenswerten Essay in der „Neuen Zürcher Zeitung“ hat der Medientheoretiker Peter Weibel die Corona-Epidemie als ein Phänomen beschrieben, das uns stärker als je zuvor vor Augen führt, dass die gesamte Weltkultur aktuell einen fundamentalen Veränderungsprozess durchlebt. Die aufgezwungene physische Immobilität und die Verlagerung der Existenz ins Digitale künden von einem Paradigmenwechsel im täglichen Leben, dessen technische Voraussetzungen bereits ab den 80ern von Computer und Internet geschaffen worden sind. Es geht dabei um eine virtuelle „Tele-Kultur“, die nicht mehr auf körperlicher Anwesenheit beruht, sondern die von zu Hause aus gelebt werden kann: Streaming statt Kino, Pizzadienst statt Restaurant sind die praktischen Beispiele, die diese im Grunde einleuchtende These stützen.

Tatsächlich mehren sich optimistische Stimmen, die behaupten, die Langzeitfolgen der Krise seien nicht wirtschaftlicher Kollaps und völlig überschuldete Staaten, sondern ein neues Bewusstsein. Es sei gewissermaßen der letzte Weckruf, der uns dazu bringt, die Ausbeutung der Natur, den Massentourismus, die Konsumkultur, also all jene Folgeerscheinungen des Turbokapitalismus, noch einmal infrage zu stellen. Der Klimawandel und die immer sichtbarere Zerstörung der Natur hatten schon davor Hilfe zum Umdenken geleistet. Vielleicht will die kommende, ökologisch-ökonomisch verantwortungsvollere Generation nicht mehr um die Welt reisen, sondern daheim bleiben und garteln. Für Voltaire war Letzteres ganz unironisch das höchstmögliche Glück.

Die Streamingkultur ließ zugleich Live-Events aufblühen

Wie dem auch sei, uns interessiert ein Aspekt des Phänomens, den auch Weibel völlig ausblendet. Die Kultur ist zwar einerseits zu einer Tele-Kultur der Streams geworden, andererseits ist sie aber so versessen auf Events wie nie zuvor. Es existieren starke Wechselwirkungen zwischen den beiden Prinzipien „virtuell“ und „live“. Denn erst der Triumphzug des Streams hat dazu geführt, dass große Popkünstler live spielen müssen, wenn sie noch großes Geld verdienen möchten. Und während die Digitalkultur wuchs und wuchs, startete die Eventkultur zugleich ihren Siegeszug. Zigtausende besuchten bis vor wenigen Wochen Festivals und Großkonzerte, Ausstellungen stellten einen Besucherrekord nach dem anderen auf, und selbst die nur scheinbar gemächliche Klassikszene stieß auf mehr Konzertbesucher als je zuvor in der Geschichte dieser so speziellen Musikkultur.

Die Coronakrise führt es uns vor Augen: Obwohl uns online Material zur Verfügung steht, das wir in Hunderten von Jahren nicht sichten könnten, trotz dieses enormen Überflusses an audiovisueller Digitalität, wächst von Tag zu Tag der Krise und ihrer vernünftigen Isolation die Sehnsucht nach der Livesituation. Nach einem direkten, nicht medialen Erleben einer Performance. Selbst das Drumherum einer Vorstellung, sei es im Theater, sei es im Jazzclub oder sei es sonst wo, ist unersetzlich: die Sounds, die Gerüche, das Licht, vom Stimmengewirr davor bis zum gespannten gemeinsamen Erleben, bis zur finalen Feier, dem Applaus. Der Zauber solcher Inszenierungen und ihrer Begleiterscheinungen nimmt uns seit den Zeiten des antiken griechischen Theaters gefangen. Selbst wenn (in einem besseren) Kino der Vorhang aufgeht, ist das viel reizvoller, als den Einschaltknopf auf der Fernbedienung zu drücken.

Gegenwärtigkeit scheint in der menschlichen Wahrnehmung und
Psychologie mit einem Gefühl von Wahrhaftigkeit verknüpft zu sein. Man denke nur daran, dass vor Gericht Aussagen persönlich gemacht werden müssen, außer triftige Gründe verhindern dies. Niemand käme auf die Idee, einen Zeugen stattdessen einfach anzurufen.

Der Pianist Glenn Gould konnte Konzerte nicht leiden, selbst musizierte er jahrzehntelang nur im Studio. Er schrieb, lange vor dem Internet, „durch die Dienste des Radios und des Phonographen werden wir der Herausforderung gewahr, dass jeder Mensch kontemplativ seine eigene Göttlichkeit erschaffe“. Er irrte. Nicht in der Einsamkeit, sondern in der Gemeinschaft erkennen wir das Göttliche der Kunst und uns. Unsere Konfiguration als soziale Wesen wird keine Technologie so schnell ersetzen. Wir brauchen die direkte Erfahrung zum Leben, wir brauchen die Kunst. Jetzt wird uns das bewusst. Das ist kein evolutionärer Rückschritt, sondern eine Chance. Hoffentlich erinnern wir uns an den Mangel zurück, wenn nach der Krise die Sparpakete kommen. Lasst uns dann nicht am falschen Platz sparen.