Sie eröffnen die Burgtheatersaison und die Intendanz von Martin Kušej mit Ihrer Inszenierung von „Die Bakchen“ von Euripides. Was erzählt uns dieses vor 2425 Jahren uraufgeführte Stück über die Gegenwart?
ULRICH RASCHE: In den „Bakchen“ tritt der Gott Dionysos auf und kämpft für sein Recht, als Gott anerkannt zu werden. Er will die Menschen dazu bringen, sich für ihn zu entscheiden und unterscheidet dabei ganz klar: Wer sich für ihn entscheidet, ist auf dem richtigen Weg. Wer sich gegen ihn entscheidet, ist auf dem falschen. Er wendet rhetorische Mittel und inszenatorische Kniffe an, die uns im Theater alle bekannt sind – und auch aus der Politik. Wenn wir nicht mehr darüber sprechen, dass Dionysos als Gott auftritt, könnten wir ihn vielleicht als eine politische Führungspersönlichkeit sehen. Sie handelt nicht vernunftgesteuert, argumentiert nicht rational und versucht nicht, aufgeklärte Menschen für sich zu gewinnen, sondern spricht in Worten der Mystik. Dionysos könnte heute jemand von denen sein, die täglich in den Medien und im Parlament erscheinen. Das ist die interessante Ausgangsposition. Die Bakchen führen aus, was Dionysos will. Sie sind eine große, vielleicht rechtspopulistische Bewegung, die eine ganze Gesellschaft in den Abgrund führt.

Sie sehen die Übersetzung auf der politischen Ebene der Verführungskünste von Einzelnen und Parteien oder Bewegungen?
Es ist überraschend, wie wenig argumentativ der politische Diskurs derzeit verläuft. Wie sehr die Werbung die Bildmacht vorgibt und die Inszenierung der Persönlichkeit, die an der Parteispitze steht, ins Zentrum des Wahlkampfes rückt. Wo es nicht um die Inhalte geht – oder darum, wie leicht wir uns verführen lassen. Wir sind tagtäglich durch die kapitalistische Ordnung des Gesellschaftssystems von Produkten umworben. Wir werden darauf hingesteuert, zu kaufen, wir werden regelrecht verführt. Auch die Politik steuert in diese Richtung und unsere Rezeptoren haben sich so verändert, dass wir Politik plötzlich als etwas wahrnehmen, das uns zur Verfügung steht, uns ein Gefühl vermittelt. Die Auseinandersetzung ist uns dabei abhandengekommen.

Erste Szenenbilder von „Die Bakchen“ – ab Donnerstag im Wiener Burgtheater
Erste Szenenbilder von „Die Bakchen“ – ab Donnerstag im Wiener Burgtheater © ANDREAS POHLMANN

Zwischen der Uraufführung und der Nationalratswahl liegen 17 Tage. Orten Sie Querverbindungen zur aktuellen Innenpolitik?
Man kann das Stück auf die politische Situation in Österreich hin lesen, aber in Deutschland ist es ja nicht anders. Auch Boris Johnson oder Donald Trump nehmen für sich in Anspruch, das Recht sei auf ihrer Seite und lehnen eine kritische Auseinandersetzung mit anderen Meinungen ab. Ich enthalte mich einer dezidierten Haltung zum tagespolitischen Geschehen. Ich denke, dass Theater anders funktioniert.

Können Sie uns das näher erklären?
Dass es in einem größeren Raum wahrgenommen wird und eine Wirkung hat, die über längere Zeit funktioniert. Dennoch wird man klar sehen, was wir von der aktuellen politischen Situation halten: sehr wenig. Und dass wir Handlungsbedarf sehen, diese Bewegung aufzuhalten, die in großen Wellen auf uns zu schwappt.

Wie legen Sie die Figur des Pentheus, Gegenspieler von Dionysos, an?
Dieser erscheint bei Euripides als Diktator, der keine Toleranz gegenüber der Bewegung der Bakchen hat. Er versucht das mit Staats-, Polizei- und Waffengewalt einzudämmen und droht, Dionysos zu enthaupten. Wir haben der Figur Texte aus dem Diskurs der Genese der athenischen Demokratie gegeben. Pentheus erscheint so als jemand, der sich bewusst ist, was die Gesellschaft ausmacht, welche zivilisatorischen Errungenschaften sie besitzt und welche Werte es zu verteidigen gilt. Er sieht die Welt aus der Perspektive der Rationalität; vielleicht unterschätzt er dabei die Kraft zutiefst menschlicher Gefühle.
Der „Spiegel“ hat Sie einmal als „Chef-Maschinist“ bezeichnet. Was steht am Anfang einer Inszenierung – das Bühnenbild?
Zuallererst steht die Entscheidung für ein Stück und ein Thema. Dann erst kommt der Raum und die Entwicklung der Bühne, das Modell. Das ist ein fortlaufender Prozess, dazu gesellen sich dann die anderen Ebenen: Musik, Sprache, die SchauspielerInnen.

Welche Maschine haben Sie ins Burgtheater gebaut?
Eine sehr große, technisch aufwendige, multifunktionale Maschine, die allen Bedürfnissen und Fantasien gerecht wird, die ich zu Euripides entwickelt habe. Die technische Leitung des Theaters und die MitarbeiterInnen sind wirklich großartig. Es gibt drei Laufbänder, die in verschiedenste Richtungen bewegt werden. Sie sind dabei ein technisches Hilfsmittel, um den Chor und die SchauspielerInnen in den Bewegungsmoment zu bringen.

Wird es auch einmal Inszenierungen von Ihnen ohne Maschinen geben. Ihre Art, Theater zu machen, schließt auch viele Stücke oder Stoffe aus?
Ich kann mich nicht mit einer bestimmten Psychologie einer Figur identifizieren. So gerne ich eine Tschechow-Inszenierung sehe, das ist nichts, das meiner Natur entspricht und ich im Theater zeigen möchte. Ich bin ein sehr politisch denkender Mensch, der Partei ergreift und Zuschauer in der Auseinandersetzung und Zuspitzung von Themen fordert.

Was schätzen Sie denn an Martin Kušej?
Wir haben eine langjährige, gute und konstruktive Arbeitsbeziehung. Ich schätze an ihm den Mut und danke ihm für die Bereitschaft, solche Inszenierungen, die einiges verlangen, zu produzieren. Es freut mich, dass er mich gefragt hat, das Burgtheater unter seiner Direktion zu eröffnen: von Direktor zu Regisseur aber auch von Regisseur zu Regisseur.