Gottesdienste, Hochzeitsfeiern oder eine Versammlung im Weißen Haus - oft sind es einzelne Veranstaltungen, die zu einer massenhaften Verbreitung des neuen Coronavirus führen. Wissenschafter sprechen von "Superspreading". Diese Art der Ausbreitung ist charakteristisch für SARS-CoV-2.

Prinzip des alles oder nichts:

Forschungsergebnisse deuten zunehmend darauf hin, dass sich das Coronavirus nicht gleichmäßig in der Bevölkerung ausbreitet, sondern eher nach dem Muster "alles oder nichts". Das bedeutet, dass die meisten Infizierten kaum andere anstecken, einige wenige aber Dutzende. Es könnte sein, dass für 90 Prozent der Fälle nur zehn Prozent der Infizierten verantwortlich sind, schätzt Benjamin Althouse von der University of Washington in Seattle.

"Das bedeutet, dass es zwar schwierig für das Virus ist, sich an neuen Orten zu etablieren, aber wenn es sich einmal festgesetzt hat, kann es sich schnell und weit verbreiten", sagt Althouse. Maria Van Kerkhove von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) bezeichnet Superspreading als das "Markenzeichen" von SARS-CoV-2.

Massenausbrüche:

Massenhafte Ausbrüche sorgten in den vergangenen Monaten immer wieder für Schlagzeilen. Im Februar infizierten sich mehr als 700 der 4.000 Passagiere des Kreuzfahrtschiffs "Diamond Princess". Zur gleichen Zeit besuchte eine infizierte 61-Jährige im südkoreanischen Dengu mehrere Gottesdienste der christlichen Gruppierung Shincheonji. Die Seuchenschutzbehörde führt mehr als 5.000 Ansteckungen darauf zurück. Der Jahreskongress des US-Pharmakonzerns Biogen Ende Februar soll für etwa 20.000 Fälle verantwortlich sein.

Im März steckten sich viele Urlauber im Tiroler Ski- und Party-Ort Ischgl an und beschleunigten so die Verbreitung des Virus in Europa. Eine Karnevalssitzung war das erste Superspreading-Event der Pandemie in Deutschland.

Hauptverbreitungsweg:

Abgesehen von diesen markanten Beispielen kamen die Autoren einer im September in der Zeitschrift "Science" veröffentlichten Studie zu dem Schluss, dass bei der Übertragung des neuen Coronavirus "Superspreading überwiegt". Die US-Forscher analysierten Daten aus den ersten vier Monaten der Epidemie in den indischen Bundesstaaten Tamil Nadu und Andhra Pradesh. Das Ergebnis: Acht Prozent der Infizierten verursachten 60 Prozent der neuen Fälle, während 71 Prozent der Infizierten das Virus überhaupt nicht weitergaben.

Mit dieser Verteilung unterscheidet sich das Coronavirus deutlich von der Grippe: Jeder Influenza-Infizierte steckt in der Regel zwei bis drei Menschen an.

Bedingungen für Superspreading:

Bleibt die Frage, welche Faktoren Superspreading beeinflussen. Entscheidend sind auf jeden Fall die äußeren Bedingungen. Viele Menschen dicht gedrängt in geschlossenen, schlecht belüfteten Räumen, die viel und laut sprechen oder singen, begünstigen die Ausbreitung. Eine kürzlich in der Zeitschrift "Nature" veröffentlichte Studie auf der Basis von Mobilfunkdaten hat Restaurants, Sporthallen und Bars als jene Orte ausgemacht, an denen sich Menschen in den USA am wahrscheinlichsten anstecken.

Eine Rolle könnte auch die Viruslast spielen, also die Menge an Viren, die ein Infizierter in sich trägt. Die mache aber einen Menschen nicht automatisch zum Superspreader, sagt Althouse. "Ich kann eine Million Mal mehr Viren in meiner Nase haben als Sie - aber wenn ich als Einsiedler lebe, werde ich niemanden anstecken."

Deshalb sei es so wichtig, Schutzmasken zu tragen, Abstand zu halten und die sozialen Kontakte einzuschränken, sagt der Forscher Felix Wong vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) unter Berufung auf seine Modellrechnungen: Wenn sich jeder Mensch auf zehn Kontakte beschränkte, würde "die Übertragung des Virus sanft erlöschen".