Berlin-Alexanderplatz zur Mittagszeit. Normalerweise herrscht hier ein ziemliches Gewusel. Im Laufe des Tages passieren den Alex 350.000 Menschen, mehr als Bonn Einwohner hat. Jetzt sieht man zur Mittagszeit nur ein paar verstreute Fußgänger in weitem Abstand voneinander. Corona scheint Deutschlands Städte zu entvölkern.

Für viele ist es ein merkwürdiges Gefühl, wenn sie jetzt vor die Tür treten. Ein bisschen wie an einem Sonntag: Kaum Verkehr auf den Straßen, wenig Leute unterwegs. Aber es ist auch wieder anders: Spielplätze sind mit Flatterband abgesperrt. Und manche Geschäfte haben nicht nur geschlossen, sondern auch die Auslagen aus den Schaufenstern geräumt. Sie rechnen offenbar nicht mehr damit, in absehbarer Zeit wieder öffnen zu können.

Die Situation wirkt irreal - oder "traumartig", ein Begriff den Thomas Mann in "Der Tod in Venedig" verwendet. Die Novelle handelt von einer Cholera-Epidemie, die die Lagunenstadt entvölkert.

Angst vor der Leere

"Über verlassene Straßen zu gehen, mag zunächst mal ganz nett sein", meint der Psychologe Winfried Rief von der Universität Marburg. Endlich kein Gedränge mehr. Aber lange könne man das nicht genießen. Nach einiger Zeit bekomme die unwirkliche Situation etwas Bedrohliches. "Man kennt diese leer gefegten Straßen aus Filmen. Das ist ja auch ein künstlerisches Element. Wahrscheinlich ist die Angst vor der Leere genetisch bei uns eingebaut." Viele Tiere scheuen instinktiv freie Flächen, weil sie dort keine Deckung haben.

Die teilweise leer geräumten Regale in den Supermärkten verstärken das Gefühl einer Situation, die außer Kontrolle gerät. "Leere Regale kennen wir nicht mehr", sagt Rief. Ältere Menschen fühlten sich dadurch an die ersten Jahre nach dem Krieg erinnert, als in Deutschland Hunger herrschte.

Komödiantische Elemente

Zum Glück erlebt man auch Szenen, die eher in eine Komödie als in einen Katastrophenfilm passen würden. Köln, Ebertplatz: Der Lastwagen eines Großhändlers mit Hygieneartikeln ist vorgefahren. Ein Mitarbeiter trägt eine Palette Toilettenpapier raus. Das fällt natürlich auf in diesen Tagen. Daraufhin warnt er die Passanten: "Ich habe einen Waffenschein!"

Die Leere der Straßen vermittelt das Bild einer ausgestorbenen Stadt, aber dem ist natürlich nicht so: Die Bewohner haben sich in die Häuser zurückgezogen. Viele verfolgen intensiv die Nachrichtenlage. Im Einzelfall kann sich das belastend auswirken: "Von den Terroranschlägen vom 11. September wissen wir, dass es da Menschen gab, die nur vor dem Fernseher saßen und anschließend über Symptome einer posttraumatischen Störung geklagt haben", erläutert Professor Rief. "So als hätten sie die Anschläge selbst erlebt. Die permanente Stimulation mit bedrohlichen Situationen kann zu Angstsymptomen und Albträumen führen."

Was in dieser Situation helfe, sei Berechenbarkeit. "Die Politiker sollten zwar unbedingt ehrlich sein, sie sollten wahrheitsgemäß sagen: Das ist jetzt erst der Anfang, wir sind noch lange nicht über den Berg. Aber sie sollten schon auch eine Perspektive aufbauen, im Sinne von: Das Leben geht weiter. Irgendwann haben wir das überstanden."