Volkskongress-Tage sind mühsame Tage in Peking. Der Verkehr ist eingeschränkt, alle Brücken und Übergänge werden von zusätzlichem Wachpersonal genau beobachtet, älteres Parteivolk bezieht Stellung auf den Gehsteigen, damit keiner auf dumme Gedanken kommt.

Er ist also sehr wohl im Alltag zu spüren, der Nationale Volkskongress, in den chinesischen Staatsmedien ist er ohnehin Dauerthema für mehr als eine Woche. Früher freute sich die Bevölkerung wenigstens über frische Luft während des Volkskongresses, aber diesmal verharrte die Smogglocke über der chinesischen Hauptstadt wie festgezurrt.

Gelöscht

Man kann es den Chinesinnen und Chinesen daher nicht verdenken, dass ihre Sehnsucht nach etwas Unpolitischem, etwas Schönem in dieser Zeit enorm steigt. Beispielsweise nach Dessous. Also ab ins Internet zum Online-Shopping, wo Influencerinnen die neuesten Dessous am eigenen Körper vorführen, Pardon … vorführten! BH, Höschen und Seidenhemdchen auf nackter weiblicher Haut – für die Zensurbehörden ist das nämlich zu obszön, geht gar nicht, es wird sofort gelöscht.

Die Online-Anbieter von Dessous haben darauf rasch reagiert und lassen die schrecklich schönen Kleidungsstücke nicht mehr von Frauen vorführen, sondern von … jungen Männern! Die jungen Herren in Damendessous kommen ganz gut an bisher, der milliardenschwere Wäschemarkt in China kann vorerst aufatmen. Junge, schlanke Männer mit BH, Seidenhöschen und Netzstrümpfen – das habe nichts mit Sarkasmus zu tun, meinte ein Online-Anbieter, aber die strengen Zensurbehörden lassen ihm nun mal keine andere Wahl.

Männer mit speziellem Untendrunter sind im chinesischen Netz seither überdrüber. Der chinesische Dessousmarkt im Netz brummt jedenfalls wieder, die jungen Männer puschen mit BH & Co. die Umsätze wieder nach oben. Ganz neu ist diese maskuline Schützenhilfe für Damenmode allerdings nicht. Der Damenschuh-Influencer Wu Nan ist schon seit Jahren landauf, landab bekannt dafür, dass er seine angepriesenen High Heels auch selbst unfallfrei vorführt.

Aber der absolute Star unter den männlichen Models für Damensachen ist schon seit Jahren Li Jiaqi – besser bekannt als "Lippenstift-König" von China. Der 30-Jährige ehemalige Tanzstudent verkauft online Lippenstifte und probierte dabei jeden einzelnen von ihnen vor der Kamera auch selbst aus. Damit streamte er sich nicht nur in die Herzen aller Chinesinnen, sondern auch in den Klub der Influencer-Millionäre. Legendär ist sein Lippenstift-Marathon-Streaming im Jahr 2018. In nur zwölf Stunden generierte er dabei einen Umsatz von umgerechnet 1,7 Milliarden Euro.

Schwarzer Bildschirm

Etlichen seiner 170 Millionen Follower stockte aber im Juni des Vorjahres der Atem. Ausgerechnet am Vortag zum 4. Juni, dem Gedenktag zum Tiananmen-Massaker, tauchte in seiner Verkaufsshow ein Kuchen in Form eines Panzers auf. Der Bildschirm wurde schwarz, Li Jiaqi verschwand für Monate aus dem Netz. Auch sein Name.

Dessous, Lippenstift, Kuchen-Panzer – in China ist alles politisch. Auch ohne Nationalen Volkskongress.