Ende 2004 trat in Mannheim der Rechtschreibrat zur konstituierenden Sitzung zusammen. Sein erklärtes Ziel: Nichts Geringeres als die Wiederherstellung des "Sprachfriedens", (angeblich) bedroht durch den 1996 vorgelegten Regeltext für die neue deutsche Rechtschreibung.

Stichtag 1. August 2005

Am 1. August 2005 trat die Rechtschreibreform im Schulunterricht offiziell in Kraft: Per 31. Juli 2005 endete die siebenjährige Übergangsfrist für die Einführung der neuen Rechtschreibung und die festgelegte "Doppelkorrektur": Zuvor waren jene Schreibungen,
die nicht der Neuregelung entsprachen, von Lehrern zwar zu markieren, aber nicht als Fehler zu bewerten gewesen. Die Rechtschreibreform war rasch ein Zankapfel erster Güte – von vielen begrüßt als überfälliges Entstauben der deutschen Sprache und Orthografie, von anderen als Untergang des Abendlandes, als Fallobst für Reformwütige gefürchtet. 1996 unterschrieben auf der Frankfurter Buchmesse 100 Autoren (darunter Siegfried Lenz und Günter Grass) eine emotionale Erklärung für einen Reformstopp. 1998 bescherten die Wirrnisse um die Frage, was gelten werde und was nicht, dem Duden Umsatzeinbußen.

Auch 2015 negieren Verlage noch resolut die "neuen" Regeln. Heute, zehn Jahre nachdem die neue Rechtschreibung amtlich wurde, darf also bilanziert werden. Rudolf Muhr, Linguist an der Universität Graz (Forschungsstelle Österreichisches Deutsch), hält fest, dass die Reform so sinnlos wie sie notwendig war: "Die Rechtschreibreform ist gescheitert, weil nicht echte Lern- und Schreibschwierigkeiten geändert wurden, sondern Marginalien und zusätzliche Probleme geschaffen wurden." Nur die Änderungen bei "dass" und "daß" stünden für die Schüler auf der Plusseite. Die "Schifffahrt" war für viele zum Kentern verdammt, die Schreibweise "Gräuel" sorgte für Grauen, und einiges war dem Volk hier zu  "schnelllebig". 2004 sprachen sich 62 Prozent der Österreicher für eine Rückkehr zur alten Schreibweise aus. 2006 griff man dann tatsächlich teilweise das alte Regelwerk wieder auf. Die Konfusion war damit formvollendet – das Streben, Sprache zu modernisieren, bloß bedingt.

Formal notwendig

Sinnlose Kosmetik mit dem Schmirgelpapier also? "Nein, eine Normierung der orthografischen Form einer Schriftsprache ist notwendig, weil dies in dieser industriell-technischen Welt Grundvoraussetzung für die korrekte Beschreibung von Sachverhalten ist" meint Muhr. Allein: Bis auf Ausnahmen sei mit dieser Reform keine Erleichterung verbunden. "Das haben unsere  Untersuchungen von 5000 Schülertexten gezeigt", so der Sprachexperte. Dort, wo die Regeln diffus sind (Groß- und Kleinschreibung oder Zusammen- und Getrenntschreibung), regiert ein Mischmasch. Das sieht auch Gerhard Ruiss von der Interessengemeinschaft der Autoren so: "Statt Klärungen in Zweifelsfällen herbeizuführen und Regeln zu vereinfachen, hat sie neue Zweifelsfälle und falsche Schreibungen geschaffen, die zurückgenommen werden mussten oder die jetzt als verordnete Variantenschreibungen existieren.

Die Reform war und ist überflüssig. Sie hat nicht einmal das Ziel erreicht, die Fehlerhäufigkeit zu verringern." Vielmehr hätten "Hausorthografien" sämtliche Schreibverbindlichkeiten aufgelöst. Recht schreiben – ganz, wie es euch gefällt also? In den letzten Jahren hat sich durch "smarte Phones" eine neue Dimension aufgetan: Die Frage, wie und welcher Orthografie folgend man schreibt, scheint – Dauerwischen auf Bildschirmen geschuldet – überlagert worden zu sein durch die Frage, was man schreibt. Hans Zehetmair, Vorsitzender des Rechtschreibrates, sieht die deutsche Sprache "verkommen" und kritisiert vor allem deren Oberflächlichkeit: "Wenn man heute statt 'Hab dich lieb', dann ist das stark simplifiziert", wettert er.

Muhr sieht das österreichische Deutsch indes nicht in Gefahr: "Unsere Heimatsprache wird sich weiterentwickeln. Die Menschen verbinden damit einen Gutteil der  persönlichen und sozialen Identität. Durch Zuwanderung wird der Zwang zur Berücksichtigung des eigenen Deutsch zunehmen und der Einfluss des Englischen zurückgehen."
Dafür, dass Sprache auch atmen muss, spricht die Tatsache, dass gleich 5000 neue Begriffe Aufnahme in die letzte Auflage des Dudens fanden: Auch "Compi", "App" und "Vollpfosten" sind nun ganz offiziell Deutsch.