Orten Sie Parallelen zwischen der Corona- und der Klimakrise?
HANS JOACHIM SCHELLNHUBER: In beiden Fällen haben wir akute Notfälle, riskieren enorme Verluste an Menschenleben und dramatische Schäden. Die Schadenshöhe beim Klimawandel ist noch um Dimensionen größer – um das Hundert- oder gar Tausendfache. Es geht aber in beiden Fällen darum, zeitkritisch zu handeln. Beim Klimawandel muss man in den nächsten drei Jahrzehnten das Ruder herumreißen, sonst endet es wie mit der Titanic.

Das Handeln fällt uns in der akuten Coronakrise viel leichter.
Bei Corona spüre ich die Bedrohung unmittelbar. Beim Klimawandel sind wir in einer ganz ähnlichen Notfallsituation. Nur beträgt die Wendezeit für das Riesenschiff mindestens 20 Jahre – und wir haben noch gar nicht richtig damit angefangen.

Vor zwei Jahren schien vieles noch unmöglich, was die Pandemie erzwungen hat, wie der 90-prozentige Rückgang des Flugverkehrs. Wie verhindert man, dass wir nach der Coronakrise zurück in die Zeit vor der Pandemie kippen?
2020 wurden knapp sechs Prozent der Emissionen eingespart. Ein willkommener Einschnitt fürs Klima, aber beileibe keine Klimarettung. Die Coronakrise erschütterte unsere Gewohnheiten und Denkmuster, wie etwa die Expansion der Kreuzfahrtindustrie, Kurzflüge und der Massentourismus. Viele werden nun erkennen: Das war nicht die Art des Reisens, die wir eigentlich wünschen. Ein Teil der Bevölkerung wird sich neu orientieren.

Aber reicht das, um den Pendelschlag zurück zu verhindern?
Es ist jetzt möglich, Dinge zu denken, die vor zwei Jahren unvorstellbar waren. Damals forderte ich das Verbot von Inlandsflügen in Deutschland – und wurde verwundert angesehen. Heute darf man radikal-vernünftige Forderungen aussprechen, ohne sofort kritisiert zu werden. Nach der Finanzkrise wurde das Klimathema weggewischt – das passiert jetzt nicht mehr, die Pandemie eröffnet der Klimapolitik neue Handlungsmöglichkeiten. Corona wird unser Leben als Zivilisation daher nachhaltig verändern. Wir haben bisher 2,8 Millionen Tote durch die Pandemie, es werden tragischerweise noch mehr werden. Wir haben aber auch jedes Jahr acht Millionen Tote allein durch Luftverschmutzung, darunter viele Säuglinge. Beide Krisen sind dramatisch und erfordern resolutes Handeln.

E-Mobilität nimmt mehr Fahrt auf, als man es vor ein paar Jahren erwartet hatte. Ein Verdienst von Tesla-Chef Elon Musk, weil er E-Autos sexy gemacht hat?
Absolut. Es ist eine sehr umständliche und energieverschwenderische Art, sich fortzubewegen, indem ich einen Kolben durch eine Explosion antreibe und das in eine Rollbewegung übersetze. Das macht der Verbrennungsmotor mit einer Effizienz von maximal 30 Prozent. Der Elektromotor von Werner von Siemens aus dem 19. Jahrhundert hat eine Effizienz von 95 Prozent. Es scheint mir unsinnig, zwei Drittel der Energie durch den Auspuff zu jagen. Man versuchte sich das lange schönzureden. Jetzt ist dieses Umdenken auch bei der deutschen Automobilindustrie angekommen. Wenn Musk nicht so überzeugt seinen „Californian Dream“ leben würde, hätte es wohl fünf Jahre länger gedauert. Fünf Jahre sind für das Klima aber enorm wichtig.

Die Klimakrise mache Sie manchmal schlaflos, sagten Sie. Wie schlafen Sie heute?
Mein Schlaf ist ein bisschen ruhiger geworden, weil ich das Gefühl habe, wir sind mit unserer Mission durchgedrungen. Es gibt den gesellschaftlichen Konsens, die Probleme anzupacken. Persönlich ist es daher eine etwas befriedigendere Situation. Was den Planeten betrifft, keineswegs. Wir rasen auf die roten Linien zu.

Sie machten aus Pflichtbewusstsein weiter, weniger aus Hoffnung, meinten Sie einmal. Die Chance, dass wir die Zwei-Grad-Linie für die noch erträgliche Erderwärmung erreichen, liege bei vielleicht zehn Prozent. Wie können wir diesen Strohhalm noch ergreifen?
Es geht bei den sogenannten Kipp-Punkten im Klimasystem um hochgradig nicht-lineare Prozesse. Es gibt aber auch soziale Kipp-Punkte – wie Greta Thunberg, die eine weltweite Bewegung angestoßen hat: ansteckende Prozesse, die exponentiell wachsen. Die Frage ist: Kann man Nichtlinearität in der Natur mit Nichtlinearität im Sozialen schlagen? Dafür öffnet sich ein kleiner Spalt, ein bisschen Hoffnung dringt durch.

Sie sagten auch, wir werden viel mehr Glück brauchen, als wir Verstand haben. Wächst der Verstand?
Durch die Coronakrise haben wir ein bisschen mehr Verstand erworben. Wir brauchen das Glück des Tüchtigen – dafür müssen wir etwas tun. Nach der Jugendbewegung hoffe ich auf Kreative, Künstler und Menschen, die Geschichten erzählen.